Warum braucht das moderne Russland die Kosaken?

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ANNA SOROKINA
Im Russischen Reich bildeten die Kosaken eine besondere soziale Klasse oder einen „Stand“, der sich durch seine herausragenden militärischen Fähigkeiten auszeichnete. Sie verteidigten die Grenzen des Russischen Reiches. Kosaken gibt es aber auch heute noch.

„Wir nehmen unsere Schaschka [Kosakensäbel] in die rechte Hand und halten sie fest. Jetzt zeige ich euch einen Trick“, sagt ein stämmiger, grauhaariger Mann in einem Leinenhemd mit ethnischem Muster und stellt eine Wasserflasche auf den Tisch. Zack - und mit einer leichten Handbewegung schneidet die scharfe Klinge den Hals der Plastikflasche ab, ohne, dass diese auch nur wackelt. Das Spektakel zieht eine ganze Schar von Bewunderern an.

Ein Kosake im Herzen

Anatoli Kramarenko ist Kosake. Im modernen Russland spielen die Kosaken nicht mehr die Rolle, die sie vor der Revolution hatten, aber für ihre Nachkommen wie Kramarenko ist das immer noch Teil ihrer Identität. „Ich bin ein Kosake, ein Chorunzhy, ein Offizier und ein Krieger“, sagt er. „Meine Großväter und Urgroßväter waren auch Kosaken.“ Der Chorunzhy ist ein militärischer Rang der Kosaken  [entspricht dem zweiten Leutnant], der vom Ataman (Führer) einer Kosakengemeinschaft verliehen wird. Zu dieser Gemeinschaft gehören Männer mit militärischem Hintergrund, von denen viele heute versuchen, die Traditionen der Kuban-Kosaken wiederzubeleben. 

Heutzutage haben die Nachkommen der Kosaken einen Beruf, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Anatoli zum Beispiel wurde Schmied. Seit mehr als 40 Jahren verwandelt er Metallstücke in filigrane Rosen, robuste Hufeisen und Kosakensäbel.

Wie wird man Kosak?

Vor der Revolution von 1917 waren die Kosaken mit über drei Millionen Menschen, 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, eine wichtige militärische Dienstklasse in Russland. Ihre Vorfahren waren „Flüchtlinge“ aller Art, die auf der Suche nach einem freien Leben vor den Behörden in die Randgebiete des Reiches geflohen waren. Der russische Staat nutzte die Kosaken für seine eigenen Interessen und gewährte ihnen im Gegenzug für die Bewachung der russischen Grenzen gegen äußere Bedrohungen erhebliche Freiheiten. Die verschiedenen Kosakengruppen wurden nach ihrer geografischen Lage bezeichnet: die Kuban-Kosaken (die entlang des Flusses Kuban in der Region Krasnodar lebten), die Don-Kosaken (die entlang des Flusses Don in der Region Rostow lebten), die Terek-Kosaken (die entlang des Flusses Terek im Kaukasus lebten), die Saporoger Kosaken (die „sa porogami“ – „jenseits der Stromschnellen“ - des Dnjepr in der heutigen Ukraine lebten) und die Jenissei-Kosaken (die entlang des Jenissei in Sibirien lebten). Und obwohl sich die Kosaken aus völlig unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammensetzten und sich zu verschiedenen Religionen bekannten (neben der christlich-orthodoxen Mehrheit gab es unter ihnen auch Muslime und Buddhisten), entwickelten sie ihre eigenen Traditionen, ihre eigene Kultur und ihren eigenen Dialekt („Balachka“, von „balakat“ - plaudern), so dass die Kosaken von Soziologen als eine ethnisch begründete Gruppe oder eine Subethnie betrachtet werden. 

Ihre Haltung gegenüber den 1917 an die Macht gekommenen Bolschewiki war unterschiedlich. Ein großer Teil der Oberschicht schloss sich der Weißen Bewegung an, während viele andere die Idee der sozialen Gleichheit vertraten und den Bolschewiki folgten.

In den ersten Jahren des neuen Staates waren die Kosaken, vor allem die wohlhabenden, jedoch Repressionen ausgesetzt. Ihr Vermögen wurde konfisziert und ihre Familien deportiert - dies wurde in Analogie zur „Dekulakisierung“ [der sowjetischen Kampagne politischer Repressionen gegen die als Kulaken bekannte Klasse wohlhabender Bauern] als „Entkosakisierung“ bezeichnet.

Aus diesem Grund haben die Menschen bis zum Ende der UdSSR nur ungern über ihre kosakische Herkunft gesprochen. Heute bezeichnen sich laut der Volkszählung von 2010 etwa 70.000 Menschen als Kosaken, vor allem in der Region Krasnodar sowie in den Gebieten Wolgograd und Rostow, wo viele Einheimische kosakische Wurzeln haben.

Eine große Anzahl von Kosakenorganisationen ist heute an der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung beteiligt. Sie schließen Verträge ab, um für die Sicherheit in Unternehmen und bei öffentlichen Veranstaltungen zu sorgen, und unterstützen die Polizei bei der Überwachung von Straßen und Flughäfen. Andere Kosakenorganisationen konzentrieren sich auf die Wiederbelebung der kosakischen Kultur.

Ein Wunsch, gewebt aus tausend Knoten

Kosaken lernten von klein auf das Reiten („ohne Pferd ist ein Kosake ein Waisenkind“), das Dschigitowka (Kunstreiten), den Umgang mit Klingenwaffen und die Kunst der Flankirowka (Drehen und Führen eines Säbels). 

Sie waren auch in Gesang und Tanz geübt.

Heutzutage haben Kinder und Erwachsene in der Kuban-Region auch die Möglichkeit, die Kultur ihrer Vorfahren durch traditionelles Kunsthandwerk kennen zu lernen.

„Als wir anfingen, Volkskunst zu unterrichten, mussten wir unsere Großmütter befragen, wie es zu ihrer Zeit gewesen war“, sagt Tatjana Asanowa, Lehrerin an einer Schule für traditionelles Kunsthandwerk in der Kuban-Region. Tatjana hat eine akademische Kunstausbildung erhalten und unterrichtete an einer Kunstschule. Doch eines Tages sah sie im Fernsehen einen Bericht aus der benachbarten Republik Adygea über handgefertigte Gegenstände aus Maisblättern. Sie beschloss, mehr über diese Art der Volkskunst zu erfahren und beschäftigt sich seit 2007 damit. „Am Ende war ich süchtig“, gesteht sie. „Dieses Handwerk hat eine eigene Weisheit und ein eigenes Wissen, das einen innerlich bereichert.“

Tatjana unterrichtet junge Leute im Weben von Gegenständen aus Maisblättern - bekannt als Talasch (im Balachka-Dialekt bezeichnet das Wort ein Hemd oder eine Schale aus Mais) . Besonders beliebt sind die aus Talasch geflochtenen Einkaufskörbe: Sie fassen kiloweise Einkäufe, halten jahrzehntelang und sind absolut umweltfreundlich.

In der Schule werden auch die traditionelle Stickerei und die Herstellung von Volkstrachten gelehrt. Der Gürtel war ein sehr wichtiges Detail der Tracht, vor allem die Knoten an den Enden: „Indem wir einen Knoten binden, verankern wir unsere Gedanken und Wünsche, und wir sollten niemals die Knoten anderer Leute lösen", erklärt Tatjana. „Wir kennen die Geschichte von einer Frau, die für ihren Mann, der in den Krieg zog, einen Gürtel mit Tausenden von Knoten webte und darin ihren Wunsch ‚verknotete‘, dass er zurückkommen möge. Und hinterher sagte der Mann, dass es Momente gab, in denen er sich zur Seite drehte, um seinen Gürtel zu richten, und eine Kugel vorbeiflog. Gegen Ende des Krieges wurden er und andere gefangen genommen, und auf dem Weg zur Hinrichtung sah ein Deutscher seinen Gürtel, und der Mann war der einzige, dessen Leben der Deutsche verschont hat.“