Eine Stadt in der Stadt: Wie lebt es sich in einem Wohnblock mit über 18.000 Bewohnern?

Ilya Varlamov (CC BY-SA 4.0)
Ein Wohnhaus in der Nähe von St. Petersburg schockiert durch seine Größe. Wir haben die Bewohner gefragt, wie es sich dort lebt.

Das Nowy Okkervil (benannte nach einem Fluss in der Nähe) ist das größte mehrstöckige Gebäude im Leningrader Gebiet und liegt in der Stadt Kudrowo an der Grenze zu St. Petersburg. Nach Angaben des Bauträgers ist das Haus für 20.000 Menschen ausgelegt –  seine Bewohner könnten eine gesamte Kleinstadt besiedeln. Wie leben die Menschen hier? Wir lassen die Bewohner selbst zu Wort kommen.

Warum leben die Menschen hier?

Wir haben bereits über die Gründe für die Ansiedlung von Russen in solchen „Ameisenhaufen“ geschrieben, wenn sie in einem solch großen Land leben (falls Sie den Artikel verpasst haben, sollten Sie ihn unbedingt lesen). Nowy Okkervil ist in dieser Hinsicht kein „Ameisenhaufen“ sondern ein „Ameisenberg“. Das Haus hat 3708 Wohnungen, 35 Eingänge und 25 Etagen.

Der Schwerpunkt liegt auf Zwei-Zimmer-Wohnungen, vorrangig für Familien. Es gibt durchschnittlich vier bis sechs Wohnungen pro Stockwerk und Aufgang, mit vier Hochgeschwindigkeitsfahrstühlen in jedem Treppenhaus. Der riesige Wohnungskomplex wurde 2015 übergeben – und war sofort der ein Hit auf dem Immobilienmarkt.

„Wie habe ich entschieden, dass ich in diesem Haus leben will? Ich mietete dort eine Wohnung, verliebte mich in das Haus und kaufte die Wohnung. 3,5 Millionen Rubel (41.650 €) musste ich damals dafür berappen. Jetzt kostet sie 5,6 Mio. (66.640 €)“, erzählt ein Bewohner des Hauses mit dem Nutzernamen Ekz0 auf der beliebten Plattform Pikabu.

Jelena Tscherepowa gehört zu den ersten Bewohnern: „Wir haben uns überlegt, in St. Petersburg zu wohnen, aber uns gefielen die Altbauwohnungen nicht. Die Wohnungen dort sind in einem schlechten Zustand oder sie sind sehr teuer.“ Sie sagt, dass es auf ihrer Etage acht Wohnungen gibt, von denen nur zwei Zwei-Zimmer-Wohnungen sind (die anderen sind Ein-Zimmer-Wohnungen). Ich habe den Eindruck, dass die meisten Wohnungen [von den Eigentümern] vermietet werden, weil die Nachbarn wechseln“, meint sie.

Faktisch eine riesige Stadt auf einem Fleck. Gibt es eine eigene Schule, medizinische Versorgungseinrichtungen und einen Supermarkt?

In solchen Häusern befinden sich in der Regel im gesamten Erdgeschoss Gewerbeflächen. „Es gibt sieben Lebensmittelläden, drei Schönheitssalons, eine Kneipe, ein Blumengeschäft, ein Baugeschäft, einen privaten Kindergarten, drei Cafés, ein Postamt, einen Online-Bestellservice, eine Apotheke, ein Gesundheitszentrum, einen Sportbereich für Kinder, ein Geschäft für Tierprodukte, ein Geschäft für Kinderartikel, einen Schreibwarenladen und einen Computerclub. Das ist noch nicht alles, vielleicht habe ich etwas übersehen. Direkt neben dem Haus gibt es eine Schule und einen Kindergarten, um die Ecke einen Supermarkt, in 500 m Entfernung einen Hypermarkt und noch einiges anderes. Einmal habe ich den Hof ein halbes Jahr lang nicht verlassen, weil alles da ist und ich von zu Hause aus gearbeitet habe“, sagt Ekz0

Die Infrastruktur sei ein großes Plus, wenn man an einem Ort wie diesem lebt, sagt Jelena: „Ich habe ein Schwimmbad auf der anderen Straßenseite, da gehe ich jeden Tag hin. Geschäfte, Apotheken, Friseure – alles zu Fuß erreichbar.“

Die Bewohner des Gebäudes geben an, dass sie zu Fuß oder mit dem Bus 25 Minuten bis zur nächsten U-Bahn-Station benötigen, die bereits innerhalb der Stadtgrenzen von St. Petersburg liegt. Um ins Zentrum, zum SennajaPlostschad, zu gelangen, muss man sechs Stationen fahren, was laut Yandex.Metro-Navigator weitere 26 Minuten dauert. Fast alle, die in Nowy Okkervil wohnen, arbeiten in St. Petersburg, nicht in Kudrowo.

Parkplätze hingegen können ein Problem darstellen, wenn man nicht extra dafür bezahlt. Kostenlose Parkplätze stehen direkt im Innenhof in mehreren Reihen zur Verfügung. Abends wird die Suche nach einem Parkplatz zur Herausforderung. Die drei Spielplätze sind von mehren Reihen Autos umringt. „Das ist ärgerlich, da es drei große gebührenpflichtige Parkplätze direkt vor dem Haus gibt, die Tagespreise beginnen bei 150 Rubel (1,80 €). Ich mache mir keinen Stress – ich parke und bezahle. Und keiner kommt an den Wagen ran“, sagt Ekz0.

Im Haus gibt es zwar keine eigene Schule, aber es befindet sich eine in der Nähe. Sie hat  eine Kapazität von 1.600 Schülern, die von Kindern aus dem ganzen Viertel besucht wird. „Vor vier Jahren habe ich meine Tochter dorthin gebracht. Am Ende besuchten 2.200 Kinder die Schule mit 1.600 Plätzen. Wir hatten zehn 1. Klassen mit jeweils 36 Schülern. Um alle unterzubringen, wurde ein überlappender Stundenplan eingeführt: Ein Teil der Schüler kommt um 8:30 Uhr, ein anderer hat ab 11:30 Uhr Unterricht – und so weiter. Aber das war uns zu krass und wir haben diese Schule gewechselt“, erzählt Jelena. Jetzt wurde in Kudrowo eine zweite Schule gebaut, und alle erwarten, dass sich die Situation verbessert.

Ist es lästig, so viele Nachbarn zu haben?

„Die Wände sind dick, man hört die Nachbarn nicht, jeder grüßt im Aufzug, auch wenn man niemanden besonders kennt, keiner stört einen, keiner randaliert herum“, berichtet Ekz0.

Es gibt 35 Hauseingänge, so dass nicht viele Leute durch eine Tür herein- oder herauskommen, sagt Alexander, der hier mit seiner Familie lebt: „Wir sehen unsere Nachbarn selten, obwohl es nur zehn Wohnungen in unserem Aufgang bei uns auf der Etage gibt. Ich wohnte früher in einem Haus mit 400 Wohnungen und es hatte nur einen Eingang. Abends gab es Warteschlangen am Aufzug, wie in der U-Bahn.“

Es gibt mehrere Gruppen in den sozialen Medien, in denen die Einwohner Neuigkeiten austauschen oder um Hilfe bitten.

Ein Bewohner schrieb auf Reddit unter dem Nutzernamen everlastsun, dass er Mitglied einer nichtöffentlichen Community von Hundebesitzern ist: „Ich habe einen großen Hund (Deutscher Schäferhund) und kenne viele andere Hundebesitzer in der Gegend. Meistens gehen wir zusammen spazieren oder treffen uns draußen an verschiedenen Orten.“

Gibt es genug Sonnenlicht?

Der bekannte russische Blogger Ilja Warlamow, der für seine Städtetests bekannt ist, berichtete über seine Reise nach Kudrowo und den Besuch in der Wohnsiedlung Nowy Okkervil: „Wenn man sich anschaut, wie es gebaut ist, ist es nur ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man aus einem Grundstück so viel Geld wie möglich herauspressen kann. Man nimmt ein Grundstück und füttert mit den Daten ein Computerprogramm, das die höchstmögliche Anzahl von Stockwerken berechnet. Einige Blöcke sind niedriger, aber nur um die Normen für die Sonneneinstrahlung zu erfüllen. Mit anderen Worten: Hier wird alles getan, damit es [das Haus] den Normen entspricht, aber mehr nicht. Dies ist die billigste, die miserabelste Unterkunft.“

Offenbar sind die Normen in Ordnung, denn niemand beschwert sich über den Mangel an Sonnenlicht. „Meine Fenster gehen zum Hof, morgens scheint die Sonne durch die Fenster, nachmittags ist es im Hof angenehm kühl und abends scheint die Sonne auf die gegenüberliegende Seite des Hauses, so dass es für alle genug Licht gibt, und da es viele reflektierende Flächen gibt, sogar mehr als genug“, sagt Ekz0.

Wie viel kostet es, hier zu leben?

In Kudrowo selbst gilt dieses Haus als elitär, „weil es das erste und hochwertigste von allen ist“, erklärt Alexander. Ihm zufolge gibt es hier kaum noch leere Wohnungen: Er hat versucht, eine zweite Wohnung zu finden, die er als Büro anmieten wollte, aber das war ein Problem.

„Was die Miete anbelangt, so sieht es wie folgt aus: Eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Euro-Standard kostet 19.000 Rubel (228 €) [im Monat] und die Betriebskosten betragen 6.000 (72 €). Es gibt eine Fußbodenheizung und die Möbel und Geräte sind alle neu. Der Kaufpreis einer neuen Ein-Zimmer-Wohnung beträgt 7,5 Millionen Rubel (900.000 €). Es gibt hier also schon lange keine billigen Wohnungen mehr“, sagt er.

Ist es insgesamt ein schöner Ort zum Leben?

Everlastsun gibt zu, dass dies eine sehr schwierige Frage ist. „Ich persönlich würde es nicht vorziehen, mein ganzes Leben hier zu verbringen. Aber es ist nicht so, dass man sich dort schlecht fühlt. Das ist ganz nett und sogar schön. Es gibt Schulen und Kindergärten in der Nähe und alles, was man braucht, ist in Reichweite. Ein guter Park/Wald ist nicht allzu weit entfernt (30 Minuten zu Fuß). Und ja, ich fühle mich hier sicher.“

Alexander gibt zu, dass es das beste Haus ist, in dem er in den letzten 20 Jahren gelebt hat. „Es gibt drei große Pluspunkte: Erstens die Qualität des Hauses selbst. Wir haben vier luxuriöse, geräumige Aufzüge, in denen Sie sogar Möbel transportieren können. Außerdem ist alles videoüberwacht und man muss keine Angst haben, sein Auto dort abzustellen. Zweitens der Hausservice. Alles wird regelmäßig gereinigt und sogar die Spiegel in den Aufzügen sind sauberer als zu Hause. Es sammelt sich kein Müll an, weil er sofort entsorgt wird. Drittens die gut entwickelte Infrastruktur. Man kann in 1 – 2 Minuten zum Laden laufen und alles einkaufen. Die Schule ist 1 Minute entfernt, der Garten 2 Minuten. Wir sind hier glücklich. Ich kenne ein paar andere Leute aus unserem Gebäude und die sind ebenfalls zufrieden.“

„Es ist absolut toll“, äußert Ekz0 ohne Zögern. Der einzige Nachteil, den er anführt, sind die „schwankenden“ Betriebskosten: von 1.400 Rubel (16,80 €) im Sommer bis zu 5.500 (66 €) im Winter für eine Einzimmerwohnung, weswegen er sich ständig bei der Verwaltungsgesellschaft beschwert, die ihm regelmäßig Geld rückerstattet. Außerdem staut sich der Verkehr morgens und abends.

>>> Warum leben Russen in dem riesigen Land auf engstem Raum?

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