Wie wurde die Wattejacke zum populärsten Outfit der UdSSR und warum ist sie heute ein Schimpfwort?

Russia Beyond (Photo: Legion Media)
Wir erzählen Ihnen, wie eine gewöhnliche, billige Jacke zu einem universellen sowjetischen Gleichmacher und dann zu einem Schimpfwort wurde, das Sie vor Gericht bringen kann.

Warm, winddicht und vor allem günstig – das war derWatnik, eine klassische mit Baumwollwatte gefüllte Steppjacke. In der Sowjetunion trug das ganze Land dieses Kleidungsstück: die Armee, Studenten, Arbeiter, Häftlinge, Bauarbeiter, Kraftfahrer und andere Bevölkerungsgruppen.

Nach einiger Zeit wurde sie als „ureigen russisches Kleidungsstück“ betrachtet, genau so wie der Kokoschnik oder der Sarafan, aber vor einigen Jahren wurde der Begriff zu einem Schimpfwort. Wie konnte es dazu kommen?

Woher stammt die Wattejacke?

Wir sollten gleich klarstellen: Der Watnik ist kein Kleidungsstück, das ursprünglich in Russland hergestellt wurde. In Russland kam er erst Ende des 19. Jahrhunderts auf, was auf mehrere Umstände zurückzuführen ist.

Wie heißt es doch so schön: Und wer hat’s erfunden – die Schweizer. Nachdem 1865 ein Verfahren zum Entfetten von Baumwolle erfunden worden war, begann die Schaffhauser Woll- und Baumwollcarderie 1870 mit der industriellen Herstellung von Watte. Von diesem Zeitpunkt an setzte eine weltweite Baumwollrevolution ein: Watte begann, andere natürliche Textilfüllstoffe wie Rosshaar, Leinen, Wolle usw. zu ersetzen.

Der zweite Grund des Wattejacken-Kults war die Reform der russischen Armee. Eine Analyse der Ergebnisse des Russisch-Türkischen Krieges von 1877-1878 zeigte, dass die bestehende Felduniform nicht praktisch und frostsicher genug war – Tausende von Soldaten wurden krank oder starben an Unterkühlung. Daher kündigte Kaiser Alexander III. Im Jahre 1882 eine Reform an: Die Militäruniform sollte vereinfacht, verbilligt und gleichzeitig praktischer gestaltet werden. Sofort wurde die Aufmerksamkeit auf die Watte gelenkt und bereits 1885 wurden der warme, wattierte Beschmét zu einem unverzichtbaren Kleidungsstück für die kaukasischen Kosaken.

So hielt die Wattejacke Einzug in die zaristische. Aber im Volk waren gesteppte Kleidungsstücke schon lange beliebt. Sie wurden von Kutschern und Kaufleuten gleichermaßen getragen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie mit Wolle gefüllt, was sie wärmer und leichter machte. Dennoch waren sie nur der Prototyp der Wattejacke und es war unbequem, körperlich schwere Arbeit in einer so voluminösen Jacke (die sehr viel wog) zu verrichten. Aber gerade durch ihre Bequemlichkeit bei der Arbeit zeichnet sich eine Wattejacke aus! Die Sowjetzeit wurde zum „goldene Zeitalter“ desWatniks.

Die volkstümlichste Jacke

Die Wattejacke hat sich im Ersten Weltkrieg bestens bewährt. Für die Herstellung wurden nur gewöhnliche Nähmaschinen benötigt, was die Arbeit in der Zeit der allgemeinen Mobilisierung erleichterte, und die geringen Materialkosten ermöglichten es, dass die Wattejacken sofort von Millionen von Menschen getragen werden konnten.

In den 1930er Jahren wurde es zur Pflicht gemacht, eine Wattejacke unter dem Mantel zu tragen, und mit einem Befehl von 1942 ersetzte sie sogar vollständig den Mantel bei den Gefreiten und den unteren Diensträngen der Roten Armee im rückwärtigen Dienst.

Der Zweite Weltkrieg ließ dieses Kleidungsstück in den Vordergrund rücken, nicht nur an der Front, sondern auch darüber hinaus. Der Watnik erwies sich selbst in kalten Werkshallen, bei wochenlangen Expeditionen, in sowjetischen Straflagern, auf windgepeitschten Feldern und auf Feldzügen als geeignet. Die Blütezeit der Wattejacke im Land war die Kriegs- und Nachkriegszeit – mit ihren Megabauten im ganzen Land, dem Wirtschaftsboom und dem Warendefizit.

Sie wurde sogar genormt, so dass die Häftlinge in den sowjetischen Lagern, wie auch die Fahrer, Arbeiter und Studenten, die auf den Kolchosen zum „Ernteeinsatz“ geschickt wurden, die gleichen Watniks trugen. Der einzige Unterschied bestand in der Farbe: Die Armeeanzüge waren kaki, die zivilen blau, grau, schwarz oder braun; die Strafgefangenen trugen schwarze Watniks

In Wattejacken wurden das Kosmodrom Baikonur und die Baikal-Amur-Magistrale gebaut, die einheimische Automobilindustrie aus dem Boden gestampft und die wichtigsten Infrastruktureinrichtungen des Landes errichtet.

Und obwohl dieses Kleidungsstück ursprünglich für rein pragmatische Zwecke geschaffen wurde und niemand über Ästhetik nachdachte, versuchte man dennoch, es zu modernisieren und elegant zu gestalten: Sowjetische Frauen nähten Kragen an den Watnik, schnürten ihn enger und verzierten ihn mit Stickereien.

Ende des 20. Jahrhunderts erregte die beliebteste Oberbekleidung Russlands die Aufmerksamkeit des Westens als exotisches Accessoire im „postsowjetischen Stil“ und wurde von berühmten Modehäusern und dem europäischen Massenmarkt neu interpretiert.

In der Armee wurde die Wattejacke lange Zeit verwendet, doch gehört sie heute praktisch der Vergangenheit an, da sie durch Thermounterwäsche aus modernen Materialien ersetzt wurde. Es ist unwahrscheinlich, dass man heute in Militäreinheiten noch eine klassische Wattejacke antrifft.

Warum gibt es in Russland das SchimpfwortWatnik?

In Russland kann man das WortWatnik heute jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der eigentlichen Wattejacke hören.

AlsWatniks werden in den russischen sozialen Medien seit mehr als zehn Jahren abschätzig patriotisch gesinnte Russen bezeichnet, die sich durch Unkenntnis ihrer Geschichte, Unfähigkeit zur Analyse der Situation und blindes Vertrauen in Mythen und Klischees auszeichnen. Wie der Sprachwissenschaftler Maxim Kronhaus feststellt, hat das Wort auch eine soziale Konnotation, denn der Watnik ist ein Kleidungsstück der „nicht gehobenen Schichten“, und der Spitzname Watnik bezieht sich meist auf ein schlecht gebildetes und leicht beeinflussbares Mitglied der Bevölkerung.

Der Begriff hat es sogar bis in die Rechtspraxis geschafft. Im Jahr 2017 wurde ein Einwohner von Saratow zu 160 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil er zu einem „Holocaust der Watte“ aufgerufen hatte. Der Fall wurde nach dem § 282 des Strafgesetzbuch – „Erniedrigung der Menschenwürde“ – geahndet.

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