Freud und Leid einer Reise im Platzkartwaggon

Reise
ALEXANDRA GUSEWA
Um die rätselhafte russische Seele zu ergründen oder zumindest ein bisschen zu verstehen, muss man einmal im Leben eine Zugreise durch Russland machen, am besten in einem Platzkartwaggon.

2018 schockierte die Russen die Nachricht, dass in russischen Zügen die Liegewagen der dritten Klasse, besser bekannt als Platzkartwaggon, abgeschafft werden sollen. 

Doch die Entscheidung war absehbar. Die russischen Eisenbahnen RZD will ab 2025 keine neuen Platzkartwaggons mehr kaufen. Die noch vorhandenen Waggons werden wohl weiterhin eingesetzt, möglicherweise noch für mehrere Jahrzehnte. 

Platzkartwaggons gab es zuerst im zaristischen Russland. Zuvor gab es keine Möglichkeit, in russischen Zugabteilen einen Sitz zu reservieren. Der Begriff Platzkart kommt aus dem Deutschen und bedeutet, dass einem Fahrgast ein bestimmter Sitzplatz zugewiesen wird. Dafür fallen zusätzliche Kosten bei der Fahrkartenbestellung an.

Karten für die Schlafwagen der 2. Klasse konnten sich zu dieser Zeit nur Wohlhabende leisten, Die Tickets für die Platzkartwaggons der dritten Klasse waren dagegen erschwinglich. In der dritten Klasse gab es keine geschlossenen Abteile, die Platz für jeweils vier Passagiere boten, sondern Großraumwaggons mit ausziehbaren Sitzen. Bis in die 1960er Jahre bestanden diese aus Holz, so dass die Platzkartwaggons auch „die harten Waggons” genannt wurden. Erst später wurden Polster verwendet. Heutzutage gibt es die Möglichkeit gegen Gebühr eine zusätzliche Matratze und Bettwäsche zu bestellen.  

Die Platzkartwaggons erfuhren immer wieder Veränderungen im Hinblick auf Größe, Einteilung und Zahl der Liegen. Früher wurden sie in Leningrad vom Unternehmen Wagonmasch (das auch die ersten Metro-Waggons produzierte) sowie im Waggonwerk Twer gefertigt. 

Leiden

Mein Zug sollte um 8 Uhr am Ziel ankommen und ich dachte, ich würde gut und lange schlafen können, begleitet vom beruhigenden Geräusch der Räder. Um 6 Uhr gingen jedoch alle Lichter im Waggon an und die Zugbegleiterin schrie: „Alle aufstehen!” und „Geben Sie ihre Bettwäsche ab!”. Ich wollte sie erst nicht weiter beachten, doch dann fiel mir ein, dass eineinhalb Stunden vor Einfahrt in einen Bahnhof alle Sanitäranlagen im Zug abgeschlossen werden”, erinnert sich Maria, 50, an ihre Reise von Sankt Petersburg nach Moskau vor zehn Jahren. 

Das Schließen der Sanitäranlagen gehört in der Tat zu den unangenehmsten Begleiterscheinungen einer Zugfahrt in Russland. Das wird nicht nur beim Halt am Zielbahnhof gemacht, sondern auch, wenn der Weg durch Städte führt. So sollen das Verschmutzen der Schienen und Geruchsbelästigung vermieden werden. Mittlerweile verfügen die meisten Züge über Chemietoiletten und das Problem ergibt sich nicht mehr. Doch die Erinnerungen sind noch sehr lebendig! 

„Ich werde diesen Alptraum im Platzkartwaggon nie vergessen”, erzählt die 42-jährige Jelena. „Der Weg zum Platz war ein Hindernislauf. Überall waren Füße und Socken – manche hatten Löcher und manche haben gestunken. Und immer schnarcht jemand so laut, dass es im ganzen Waggon zu hören ist.” Jelena freut sich, dass es inzwischen günstige Flugreisen gibt und man im Sommer nicht mehr zwei Tage und zwei Nächte Zugfahrt auf sich nehmen muss, um von Sankt Petersburg ans Meer nach Adler bei Sotschi zu kommen. 

Freuden 

„Vor 15 bis 20 Jahren gingen wir oft im Platzkartwaggon auf Klassenfahrt. In nur einer Nacht nach Sankt Petersburg, Weliki Nowgorod oder nach Pskow zu kommen, erschien uns damals sehr schnell. Nach Kiew brauchte der Zug nur zwölf Stunden. Flugreisen waren ein unvorstellbarer Luxus”, sagt Jewgeni aus Moskau.

Ein Vorteil der Platzkartwaggons besonders für Alleinreisende ist seine offene Bauweise. Es ist sicherer, als in einem geschlossenen Abteil mit womöglich unangenehmen Reisebegleitern zu sitzen. 

Auch für größere Gruppen oder bei Reisen mit Kindern ist der Platzkartwaggon eine gute Wahl.  So sind immer alle im Blick! Nur die Mitreisenden sind womöglich nicht begeistert, wenn eine Gruppe den Waggon in einen Partykeller verwandelt. Nachts gilt ohnehin das Gebot der Stille. An Bord ist stets auch eine Polizeieinheit. Wenn Sie die öffentliche Ordnung stören, kann dies mit einer Geldstrafe enden oder Sie müssen den Zug an der nächsten Haltestelle verlassen. 

Früher war die Belüftung der Züge ein Problem. Die einzige Möglichkeit für frische Luft zu sorgen, war das Öffnen der Fenster, was für die Reisenden mit den oberen Liegeplätzen schnell sehr zugig werden konnte. Die unglücklichsten Passagiere waren jedoch diejenigen, die Liegen neben einem Notausgang hatten: Die Fenster dort ließen sich gar nicht öffnen. Erfahrene Reisende wussten daher, dass man die Plätze 3 und 6 meiden sollte. Glücklicherweise haben heutzutage die meisten Züge eine Klimaanlage.

In einem Platzkartwaggon treffen Sie auf ungewöhnliche Menschen mit den unglaublichsten Lebensgeschichten. Die Russen lieben es, diese Unbekannten zu erzählen, die sie nie wieder sehen werden. 

Kuriositäten 

„Als Student bin ich mit dem Zug durch ganz Russland gereist - ich bin einfach dorthin gefahren, wo gerade Spartak gespielt hat. Wir hatten kein Geld. Deshalb haben mein Freund und ich immer so getan, als hätten wir jemanden im Zug entdeckt. Wir stiegen ein und versteckten uns, er auf der Gepäckablage, ich unter der unteren Liege. Die anderen Passagiere haben sich meist nur amüsiert und uns nicht verraten. Nachdem der Schaffner die Fahrkarten kontrolliert hatte, verließen wir unser Versteck. Nur ein einziges Mal wurden wir erwischt und mussten den Schaffner bestechen”, erzählt der 41-jährige Konstantin. 

Heutzutage würde dieser Trick nicht mehr funktionieren: Der Platz unter dem unteren Bett ist jetzt durch eine Trennwand abgeteilt, so dass dort nur noch ein Kind hineinpassen würde. Doch manchmal wachst Du in der Nacht auf und entdeckst in der Gepäckablage auch heute noch eine schmale Gestalt, die dort ohne Matratze oder Bettdecke schläft. Momente wie diese sind selten, aber manchmal müssen Wehrpflichtige, die schnell an einen anderen Ort verlegt werden sollen, in ausgebuchten Zügen mit der Gepäckablage Vorlieb nehmen.  

Ein Abenteuer für sich ist die Reise in einem Zug, mit dem Soldaten nach dem Ende ihrer Wehrpflicht nach Hause fahren. Vielleicht sind heute, wo der Dienst nur noch ein Jahr dauert, die Exzesse seltener geworden. Doch früher, als man zwei Jahre unter der strengen Aufsicht der Offiziere in der Kaserne verbracht hatte, feierten die Soldaten die wiedererlangte Freiheit lautstark. Dabei floss jede Menge Alkohol, es wurde gegrölt, miteinander gekämpft und die Mitreisenden angepöbelt. 

Überlebenstipps für eine Reise im Platzkartwaggon:

>>> Platzkart-Tagebuch: Abenteuer in der Transsibirischen Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok