„Du isst und verstehst, was los ist“: Russischer Star-Koch über die Russische Küche in der Welt

Russische Küche
NATALJA SUSLINA
Im November bezeichnete das französische Gastronomiejournal „Gault & Millau“ Wladimir Muchin als „legendären Chefkoch“. Sein Moskauer Restaurant „White Rabbit“ ist auf Platz 23 der laut „The Restaurant Magazine“ besten Restaurants der Welt. Russia Beyond erzählte er, was ihn an regionalen Produkten reizt, und an der Sowjetzeit überhaupt nicht.

Russia Beyond: Herr Muchin, gerade haben Sie im Rahmen des Festivals "Russische Saisons" die Russische Küche in Japan vorgestellt. Welche fünf russischen Gerichte muss man probieren, um den russischen Geschmack und die russische Küche zu verstehen?

Wladimir Muchin: Salzgurken aus dem Fass, Vollkornschwarzbrot, vielleicht Borodino-Brot, aber das ist etwas Moderneres. Im Gedenken an die Schlacht von Borodino wurde Koriander als Symbol für den Schrot für Pistolen hinzugegeben. Graue Schtschi mit fermentiertem Kraut, Okroschka mit Kwas und als Dessert ruhig einen Medownik.

Was meinen Sie, warum ist die russische Küche nicht so beliebt in der Welt wie beispielsweise die französische, italienische oder japanische?

Weil es rund um die russische Küche sehr viele Stereotype gibt, die noch aus Sowjetzeiten stammen. Bis heute meint man weitläufig, die russische Küche sei sehr schwer und fettreich. Meine Aufgabe ist es nun, auf all meinen Reisen in der Welt zu beweisen, dass dem nicht so ist.

Sie betonen in Interviews oft russische regionale Produkte. Welche würden Sie besonders hervorheben?

Schwarzbrot, eingelegtes Kraut, Salzgurken, Wild und Beeren der Kalina und Eberesche. Die russische Küche ist sehr saisonal. Im Herbst gehen wir auf die Jagd; es gibt traditionelle Feiertage wie die Masleniza, die noch aus heidnischen Zeiten geblieben sind. Heute ist Russland weitgehend orthodox und das hat einen großen Einfluss darauf, was wir essen. Es gibt vier große Fastenzeiten, die heute immer mehr Menschen auch befolgen. Damit wenden wir uns wieder unseren Wurzeln zu.

Damit geht Russland aber auch keinen besonderen Weg, denn das passiert gerade auf der ganzen Welt. Früher war die sogenannte internationale Küche beliebt: Griechischer Salat, „Cäsar“, Salat Olivier, den man überall in der Welt als „russischen Salat“ kennt. Aber wenn wir uns die Anfänge der russischen Küche ansehen, dann waren da keine Salate. Damals war der beliebteste „Salat“: geriebene Radieschen mit Honig – und auch der entstand auch erst im 17. Jahrhundert. Salate tauchten in Russland allgemein vor nicht allzu langer Zeit auf.

Welche Etappen in der Geschichte der russischen Küche waren Ihrer Meinung nach besonders bedeutend?

Allgemein gibt es drei Typen russischer Küche. Vor Peter dem Großen und der Ankunft der Ausländer in Russland waren die Köche  Leibeigene, die nicht immer lesen und schreiben konnten. Darum haben wir über sie nur wenige Informationen. Es gibt weder Bücher noch Rezepte. Es gibt nur Beschreibungen der Bankette jener Zeit und selbst die stammen vorrangig von Ausländern, die beobachteten und niederschrieben, dass die Russen immer nach Knoblauch und Alkohol stanken. Russland war für sie wild, aber es hielt sich dennoch so ein gewisses Flair, das erst mit der Sowjetzeit dann verflachte.

Die Epoche Peter I. und direkt danach die Jekaterina-Zeit hatten dann ausländische Köche einen riesigen Einfluss auf die russische Küche. Deutsche, Franzosen, Holländer – in vielen Gerichten, die wir bis heute zubereiten, spüren wir diese Einflüsse.

Die nächste kulinarische Epoche brach dann mit der Aufhebung der Leibeigenschaft an. In Russland war das Kochen an sich eigentlich noch nie richtig beliebt, es galt als Dreckarbeit. In der Küche mussten diejenigen arbeiten, die zu Feldarbeit und Militärdienst nicht geeignet waren.

1861 dann verließen diese Menschen ihre reichen Gutsherren und jene wussten plötzlich nicht, wie sie sich was zubereiten sollten. Zu dieser Zeit entstanden erste Rezeptbücher von Jekaterina Awdejewa und „Geschenk den jungen Hausherren“ von Elena Molochowez. Damals versuchte man, die russischen Rezepte nach französischer Manier aufzuschreiben.

Zu Sowjetzeiten dann wurde das Essen immer einfacher und einheitlicher, eben wie der idealische Mensch jener Epoche. So war es leichter, die Zubereitungsprozesse zu überwachen, genauso wie die Menschen. Alle kochten nach einem Buch, es fand eine starke Standardisierung statt. Das sowjetische Essen war einfältig: sehr fett und schwer. Für mich absolut nicht von Interesse. Um zu erkennen, was „Russische Küche ist“, muss man über die Sowjetzeit hinausschauen.

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Wie bewerten Sie die Russische Küche heute?

Vor kurzem habe ich mich mit Vertretern von Gault & Millau getroffen. Sie bereiten ein Sonderheft für Ausländer, vor allem Franzosen, für die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland vor. Sie haben mir erzählt, dass sie sich oft mit Restaurantbesitzern treffen und wenn sie dann darum bitten, den Chefkoch zu sprechen, träfen sie oft auf Unverständnis.

In Russland galten die Köche lange Zeit als graue Mäuse, die in ihren Küchenkellerräumen saßen. So mancher trank, mancher klaute Lebensmittel. Und das war noch bis vor zehn Jahren so, ich kann mich an dieses Gefühl erinnern. Das war sehr unangenehm.

Mein Vater war auch Koch, erzog mich aber zu einem Menschen unter anderen Bedingungen. Er baute mir ein Restaurant und brachte mir bei, wie man dort kochen muss. Heute verstehe ich, warum er das gemacht hat: Die Schulen, wo ich lernte, konnten mir nie all das beibringen, was ich lernen wollte. 

In Russland werden Köche bis heute nach sowjetischem Standard ausgebildet – also für eine Küche mit einer riesigen Menge Majonäse: Hering im Pelzmantel, „Olivier“, Krabbensalat ohne Krabbenfleisch. Diese Produkte gehören zu unseren geschmacklichen Gewohnheiten, werden im Ausland jedoch niemanden überzeugen können. Und ich verstehe es auch nicht. Denn das ist nicht die „Russische Küche“. Vor der Revolution gab es in Russland noch viel mehr interessantere Dinge.

Ich bin dafür, einheimische Gerichte zu kochen und die Küche langsam zu verändern. Das, was gerade vor sich geht, ist ein Umschwung in der russischen Küche, eine Evolution. Das will ich wenigstens glauben.

Sehen Sie eine Perspektive für den Ausbau des Gastrotourismus in Russland?

In  Russland versuchen alle, nach Moskau zu gehen. Die Regionen werden nicht entwickelt. Das finde ich sehr seltsam. Jede Region sollte ihren speziellen nationalen Code haben. Und der lässt sich doch am leichtesten an den einheimischen Produkten festmachen.

Wenn ich unterwegs bin, dann inspirieren mich Kunst und Speisen. Wenn ich in eine neue Stadt komme, dann gehe ich in Galerien und die beliebtesten und interessantesten Restaurants. Essen erzeugt eine bestimmte Atmosphäre, Restaurants sind stimmungsvolle Orte. Über die Speisen kommuniziert der Koch mit den Gästen. Das heißt, Du isst und verstehst, was gerade in der Stadt, im Land vor sich geht. So eine Art Psychologie und Philosophie. 

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