Was ist über die reichste Frau Russlands bekannt?

Alexander Scherbak/TASS
Die Mutter von vier Kindern und ehemalige Englischlehrerin Tatjana Bakaltschuk schuf aus dem Nichts das russische Äquivalent zu Amazon und wurde so 2021 die reichste Frau Russlands. Das klingt nach einer weiteren Erfolgsgeschichte einer „Selfmade-Millionärin“, wie man sie aus Hochglanz-Zeitschriften kennt? Nicht wirklich. Wir erzählen Ihnen, wie sie ihr Riesenvermögen erwirtschaftet hat.

„Herbst 2004. Es regnet und die Englisch-Lehrerin Tatjana Bakaltschuk ist mit der Metro, dem Bus und zu Fuß quer durch Moskau unterwegs, um wieder einmal ein 20-Kilogramm-Paket mit Kleidung aus Deutschland abzuholen“ – so begann im  Jahr 2012 ein Artikel über die zukünftige Milliardärin und Eigentümerin des Online-Shops Wildberries, die während ihres Mutterschaftsurlaubs zur Unternehmerin wurde und so im Jahr 2021 zur  reichsten Frau Russlands werden sollte. 

Gemessen am Umsatzwachstum im Jahr der Pandemie war sie die zweitreichste Frau weltweit. Damit ist sie die einzige Unternehmerin in Russland, die es in die Top 50 der reichsten Unternehmer aller Zeiten geschafft hat. Diese Geschichte ist absolut einzigartig für Russland: eine Frau, die ohne jegliche Erfahrung, staatliche Unterstützung, Startkapital und potente Partner ein globales Unternehmen schuf, mehrere Finanzkrisen überlebte und nun mit Amazon konkurriert. So hieß es lange Zeit von Bakaltschuk. 

Tatsächlich ist ihre Geschichte viel komplizierter und nicht ganz so eindeutig. Wie wurde sie also zur reichsten Frau?

Eine Wohnung voller Kartons

Im Jahr 2004 brachte Tatjana ihr erstes Kind zur Welt, und fast unmittelbar danach beschloss sie, ein Unternehmen zu gründen. Vor der Mutterschaft arbeitete sie als Englischlehrerin, ihr Mann Wladislaw als Strahlenphysiker. So lautet die Legende.  

Die Wahl fiel auf den Online-Handel – Tatjana beschloss, in Russland Kleidung aus den beliebten deutschen Katalogen Otto und Quelle weiterzuverkaufen. „Startkapital hatte ich keins – es reichte nur für die Entwicklung einer Website“, erzählte sie. Und einen vollwertigen Online-Markt gab es damals in Russland auch noch nicht: Nur kleine Elektronikartikel, Haushaltswaren und Bücher – kurzum Dinge, die nicht anprobiert und die ungesehen gekauft werden können – wurden über das Internet veräußert. Vor Wildberries wurde Kleidung so gut wie nie online gekauft.

Zuerst nutzte sie ihre Wohnung, die buchstäblich voll mit Kisten mit Waren war, als Büro und Lager. Tatjana war Lageristin, Kurierin, als auch Organisatorin und Geschäftsinhaberin in einer Person.

Vertraute rieten der jungen Mutter ab: Niemand würde Kleidung im Internet bestellen, da man diese schließlich anprobieren müsse. Aber Bakaltschuk traf eine richtungsweisende Entscheidung: Sie schaffte die Vorauszahlung ab (die bis dahin auf dem Online-Markt in Russland obligatorisch war) und setzte einen Einheitsaufschlag für alle fest. Dies reichte aus, um das Unternehmen „immer schneller wachsen zu lassen“.

Bereits im ersten Jahr mietete sie ein vollwertiges Büro an und begann aktiv zu expandieren – neben Kleidung aus Katalogen begann sie, europäische Top-Marken anzubieten. Die ersten Mitarbeiter rekrutierte sie im Verwandten- und Bekanntenkreis: „Ich holte meine jüngere Schwester mit ins Boot, dann eine Kollegin von Wlad [dem Ehemann]. Aber es wurden immer mehr Aufträge und wir kamen nicht mehr hinterher, also riefen wir weitere Bekannte und Verwandte an. Mein Vater war bereits Rentner, fing nun aber wieder an zu arbeiten, als wir unsere GmbH anmeldeten. Meine Tante wurde Buchhalterin. Fast die ganze Familie kam zur Hilfe.“

„Ursprünglich hatte Wildberries die Idee, das Ganze als Familienunternehmen aufzubauen: Viele Topmanager sind in solchen Unternehmen großgeworden“, erzählt Alexander Iwanow, Präsident des Nationalverbands für Online- Shopping.

Der nächste revolutionäre Schritt waren kostenlose Liefer- und Abholstellen mit Anproberäumen im ganzen Land – das hatte in Russland bis dahin noch niemand versucht. Dank dessen begann Wildberries schneller zu wachsen als der Markt. Im Jahr 2015 belief sich der Umsatz auf 29,5 Milliarden Rubel, im Jahr 2019 auf 117 Milliarden Rubel. Gleichzeitig blieb Tatjana Bakaltschuk eine der publikumsscheusten Geschäftsfrauen Russlands und hielt sich mit Presseinterviews äußerst zurück. Bis vor kurzem wusste niemand, wie sie, eine Frau ohne jegliche Erfahrung im Geschäftsleben, es geschafft hat, ein so komplexes und erfolgreiches Online-Imperium aufzubauen.

Die Königin des Second Hand und illustre Verwandte

„Ich habe keine mathematische oder wirtschaftliche Ausbildung, ich habe nichts im Voraus kalkuliert. Ich hatte einfach eine Idee und habe losgelegt“, wiederholt Tatjana gerne. Aber, wie Journalisten im Jahr 2020 herausfanden, existierte sehrwohl ein Plan und die Geschichte über die „Frau ohne Erfahrung“ war ein schönes Märchen.

Als Tatjana beschloss, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, war ihr Mann Wladislaw Bakaltschuk bereits ein erfahrener Unternehmer und mitnichten nur ein einfacher Strahlenphysiker. Die Website des Online-Shops Wildberries, für die angeblich kaum genug Geld da war, wurde von der Firma erstellt, die ihm gehörte. Ende der  Neunzigerjahre war Wladislaw ins Geschäft eingestiegen: Zunächst handelte er mit Computern, dann gründete er den Internet-Provider UTech und noch später den Provider iFlat. Unternehmensquellen geben an, dass er es war, der die wichtigsten Entscheidungen bei Wildberries traf. Zu Wladislaws Verwandten gehört Yona Bakalchuk, der in Israel wohnt; er arbeitet seit zwanzig Jahren für die internationale IT-Firma Matrix GlobalServices als Director Strategic Sales; zu ihren Kunden gehören das israelische Verteidigungsministerium und der Generalstab der israelischen Streitkräfte.

Sergej und Anita Zoj

Bakaltschuk selbst ist koreanischer Abstammung (ihr Mädchenname ist Kim). Ihre Schwester Marina Andrejewa (Kim), die ebenfalls bei Wildberries arbeitete, ist eine Verwandte von Sergej Zoj, dem Vizepräsidenten des staatlichen Ölkonzerns Rosneft. Dessen Frau Anna Kim (in Russland ist sie als Sängerin unter dem Pseudonym Anita Zoj sehr populär) wird von Journalisten als „Freundin der Familie“ des Rosneft-Chefs Igor Setschin bezeichnet.  Jekaterina, die jüngere Schwester Juri Zojs (und Nichte Sergej Zojs), unterstützte ein Partnerschaftsprojekt mit Wildberries. Und eine weitere Verwandte Bakaltschuks, Nadjeschda Woronzowa (Zoj), erhielt einen staatlichen Zuschuss von 150 Millionen Rubel für das Projekt.

Doch schon vor dem Start von Wildberries, so die Quellen, verkaufte Bakaltschuk Second-Hand-Kleidung aus Europa in einem Einkaufszentrum der Hauptstadt und warb damit, 1000 Modelle getragener Kleidung im Angebot zu haben.

Die Bakaltschukes bestreiten, dass die Familien Tsoj und Kim in irgendeiner Weise finanziell an der Entwicklung ihres Unternehmens beteiligt gewesen seien. Doch in einem Interview gab Tatjana kürzlich zu: „Die Geschichte einer Selfmade-Frau im Business ist als Vorbild gefragt. Außerdem wurde dieser Schritt bewusst gegangen – als sie eine professionelle PR-Firma engagierten.

„Selfmade-Frauen“ verkaufen sich gut

Nach Problemen mit Lieferanten entschied sich Bakaltschuk, sich an PR-Spezialisten zu wenden. Es kursierten Gerüchte, dass Wildberries in Konkurs gehen würde. Der Chef einer der großen Zulieferfirmen begründete dies so: „Wildberries hat die Leute süchtig nach Rabatten gemacht: Niemand mehr kauft etwas zum vollen Preis. Wie ein Schlussverkauf, nur online. Nur durch Dumping war es möglich, alle zu überholen. Aber das Dumping geht auf unsere Kosten.“

Es war notwendig, die Haltung der Lieferanten aufzuweichen, und die PR-Spezialisten beschlossen, das Unternehmen durch eine gewinnbringende Geschichte zu positionieren: eine ehemalige Englischlehrerin, die das Unternehmen kurz nach der Geburt eines Kindes gründete [Tatjana wird später noch drei weitere Kinder bekommen] und es zum erfolgreichsten E-Commerce-Unternehmen Russlands werden ließ. Dann erschien ein großer Artikel über Tatjana und ihr Geschäft in Forbes – und es funktionierte. Die bis dahin verborgenen Informationen über die Geschäftsfrau erregten viel Aufmerksamkeit, es mangelte nicht am Interesse der Journalisten. Allmählich wurde Tatjana Teil der High Society.

Gewinn Dank der Krisen

Aber nicht nur das trug dazu bei, dass das Kapital wuchs und Bakaltschuks persönliches Vermögen im Jahr 2021 mehr als 1 Mrd. US-Dollar erreichte, sondern auch die Krisen, Dank derer sie ihr Geld verdiente.

2009 schloss die Unternehmerin zum ersten Mal einen großen Direktvertrag mit einem Hersteller ab: Adidas hatte aufgrund der sinkenden Nachfrage große Bestände in seinen Lagern. Wildberries nahm daraufhin einen Kredit auf und kaufte 3.000 Paar eines  Turnschuh-Modells. „Liquidationskäufe“ wurden zu einem gut funktionierenden Geschäftsmodell – das Unternehmen kaufte von den Herstellern alles auf, was aus irgendeinem Grund nicht ausverkauft war (wegen Mängeln, geringer Qualität oder kleiner Nachfrage), wofür Vertreter nach Europa zu Sales-Aktionen fuhren. Dies wurde von einer Flut von Kommentaren russischer Käufer begleitet, die mit der Qualität der Waren unzufrieden waren, aber das Unternehmen war immer noch profitabel.

Die zweite große Krise kam während der Coronavirus-Pandemie, als der Online-Handel weltweit in den Vordergrund trat. Während Wildberries vor der Krise 15.000 Mitarbeiter beschäftigte, waren es Ende Mai 2020 bereits 53.000 Festangestellte und Zeitarbeiter. Das Unternehmen vertreibt seine Waren in neun Ländern der GUS und Europas. Dadurch stieg Bakaltschuks Vermögen um 1200 % auf 13 Milliarden Dollar.

Der Exportumsatz von Wildberries selbst stieg ebenfalls, und zwar um 89 %. Zu den Spitzenprodukten, die aus Russland exportiert wurden, gehörten medizinische Masken, zuckerfreie Marshmallows, Erdnusspaste, Windeln, T-Shirts und das Buch Geschichte Russlands für Kinder.

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