Maria Loginowa ist 103 Jahre alt. Sie hat Revolution, Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg und die Perestroika miterlebt. Aber sie hält nicht so viel davon, sich zu viel mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Sie hat ohnehin zu wenig Zeit dafür, denn sie kocht, arbeitet im Garten und hat eine Schar Enkelkinder. Ihr jüngstes Hobby sind Handarbeiten. Maria arbeitet für ein Instagram-basiertes Startup und strickt schicke Pullover aus feinster peruanischer Wolle.
Julia Aljewa hat vor zwei Jahren ihre Führungsposition im staatlichen Sektor aufgegeben, um ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Auf Instagram sagt Julia, dass sie schon immer „Achtung vor älteren Menschen“ hatte. Deshalb hat sie beschlossen, etwas zu tun, um Rentner in ganz Russland zu unterstützen.
„Meine Oma sagte oft, dass unsere Handarbeiterinnen einzigartig seien, nur wisse das niemand“, erzählte Julia der Zeitschrift „Ogonjok“. Diese Worte kamen ihr in den Sinn, und so hat sie „Granny’s“ gegründet, wo Handarbeiterinnen im Seniorenalter ihre Strickwaren online verkaufen und mit ihrem Talent ein paar Rubel zur Rente hinzuverdienen können.
Über Soziale Medien versuchte Julia Strickerinnen und Näherinnen zu finden. Das erwies sich als gar nicht so einfach, da viele zunächst Betrug vermuteten. Sie wollten nicht glauben, dass die Handarbeiterinnen für die Werbung und den Verkauf lediglich einen geringen Betrag als Provision abgeben sollten.
Eine Babuschka gab Julia einen Vertrauensvorschuss und schloss sich dem Startup an. Nachdem die ersten Bestellungen verkauft worden waren, erledigten Mundpropaganda und Medienberichte den Rest.
„Ich habe seit meiner Kindheit gerne gestrickt - ich habe für mich selbst, meine Schwestern und dann für Freunde gestrickt“, sagt Elena Leonidowna. „Jetzt kümmere ich mich um meinen behinderten Enkel. Ich hatte wirklich Glück, an diesem Projekt teilzunehmen. Ich kann tun, was ich liebe, während ich zu Hause bin.“
Das Geschäft funktioniert wie folgt: Zuerst geben Sie eine Bestellung auf der Instagram-Seite des Projekts auf. Dieser Auftrag wird zusammen mit den passenden Materialien an eine der Handarbeiterinnen irgendwo in Russland weitergeleitet, die die Ware zu Hause eigenhändig anfertigt. Das fertige Teil wird per Post verschickt.
Aber seien Sie gewarnt: Wenn Sie nun denken, dass da mürrische alte Frauen stricken, werden sie enttäuscht sein. Diese Damen haben Stil und setzen eigene Trends. Irina Krijuschkowa hält sich auf dem Laufenden, indem sie die aktuellen Kollektionen von H&M und Zara verfolgt: „Wenn ich stricke, stecke ich mein Herz und meine Seele in jedes Stück", sagt sie. „Massenmarktmarken mögen manches besser können, doch in dieser Ware steckt nicht so viel Gefühl und Herzblut wie in meiner!“
Niedlich, kuschelig, gewagt oder glamourös: Sie sagen was Sie wollen und Granny’s liefert. Sie fertigen grobe Zopfmuster und stylishe Pullover in Neonfarben, schicke Taschen und Hüte aus Stroh, Patchwork-Decken und Teppiche. Letztere entstehen übrigens auf einem echten Webstuhl. Das ist eines der exotischeren Kunsthandwerke im Angebot von Granny’s, so wie Klöppelspitze oder Occhi-Schmuck. Und natürlich gibt es auch alle Arten von entzückender Babykleidung.
„Ich habe in der Schule Stricken und Nähen gelernt. Das waren die Jahre des Mangels und ich wollte trotzdem gut aussehen“, erzählt Lubow Walerijewna aus Sankt Petersburg. „Als in den 90ern wieder Mangel herrschte, waren meine Töchter die schicksten Mädchen und waren sehr stolz darauf, dass ihre Mutter für sie strickte und nähte ..."
Jedes Stück trägt den Namen der Strickerin, damit Sie wissen, welche Babuschka ihre Arbeit und ihr Talent in Ihre Kleidung gesteckt hat. Laut Julia Aljewa gehört das unbedingt zum Projekt dazu. Das verleiht die menschliche Note. Es ist, als würde eine entfernte Großmutter Ihnen ein Geschenk schicken.
Heute leiten Julia und ihre Freundin Ksenia ein gut gehendes Unternehmen: 137 Babuschkas und vier Großväter aus rund 40 Städten und Dörfern arbeiten für sie. Die Kriterien, um sich als „Granny’s“-Strickerin zu qualifizieren, sind einfach - man muss nur Enkelkinder haben oder älter als 55 Jahre sein.
Die Künstler kommen aus allen Lebensbereichen - pensionierte Ingenieure und Hausfrauen, Professoren und Mechaniker sind darunter. Und die Geschichten, die sie erzählen, sind noch beeindruckender als ihre Handarbeitskunst.
Nehmen wir Asija Adolfowna, 78, eine Nachfahrin deutscher Siedler, die unter Katharina der Großen nach Russland kamen. Ihre Eltern wurden 1941 zusammen mit anderen Wolgadeutschen in den Ural deportiert, wo sie in einer besonderen Siedlung aufwuchs. Aber Sie würden das nicht vermuten, wenn Sie die lebhafte und fröhliche Dame auf Fotos betrachten. Inzwischen lebt sie in Moskau und ist eine technisch versierte Großmutter, die gerne mitten im Geschehen lebt und außerdem Socken für „Granny’s“ strickt.
Drei weitere Strickerinnen überlebten die Belagerung von Leningrad (St. Petersburg). Die 82-jährige Kalleria Pawlowna erinnert sich noch immer daran, wie sie mit einem Zug aus Moskau evakuiert wurde. Bomben fielen vom Himmel und es gab nicht viel zu essen. „Ich erinnere mich, dass sie uns Suppe aus Kartoffelschalen und Knoblauch gemacht haben ... Es war gut“, teilt sie ihre Erinnerungen auf der „Granny’s“-Seite.
„Wenn Sie bei uns kaufen, unterstützen sie eine Babuschka“, lautet der Slogan ganz oben auf der Seite von „Granny’s“. Die Marke hält, was sie verspricht. Rund 90 Prozent der Einnahmen fließen zurück an die Handarbeiterinnen. Einige Babuschkas arbeiten nach Vorlagen des Unternehmens und erhalten einen festen Betrag pro Artikel. Andere erstellen ihre eigenen Stücke und präsentieren sie auf der Seite von „Granny’s“. In diesem Fall erhält das Unternehmen eine Provision von zehn Prozent und kümmert sich sowohl um die Bestellungen als auch um die Lieferung. Alle Einnahmen abzüglich der Provisionen der Babuschkas werden investiert, um das Geschäft weiter auszubauen.
Das Einkommen variiert, je nach Handarbeiterin und Saison. „Die Handarbeiterinnen können viel selbst beeinflussen“, sagt Julia. „Wir bieten gleiche Chancen für alle. Wer seine Fähigkeiten ständig verbessert und neue Ideen einbringt, kann seine monatliche Rente leicht verdoppeln.“ Ein Beispiel: Eine der Handarbeiterinnen bekommt rund 12.000 Rubel Rente im Monat (etwa 150 Euro) und verdient die gleiche Summe noch einmal durch ihre Arbeit für „Granny’s“.
Julia ist überzeugt, dass das Projekt den Handarbeitern viel mehr gibt als nur Geld. Es ist ein Anreiz für sie, beschäftigt zu bleiben, nicht einzurosten und ihr Leben mit Sinn zu füllen. „Es motiviert sie und lässt ihre Augen leuchten", erklärt sie.
„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie gut es uns geht. Es ist genauso, wie du es geschrieben hast: Es bringt einem selbst und anderen Lebensfreude! Und man erschafft schöne Sachen. Tausend Dank dafür!“, schrieb eine von Julias Künstlerinnen, nachdem sie ihre ersten Aufträge erhalten hatte.
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