„Hinter dem geheimen Vorhang“: Wie in Russland militärische Abwehrsysteme hergestellt werden

Wissen und Technik
JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
Flugabwehrraketensysteme wie „Tor“ befinden sich in über 25 Ländern im Einsatz. Unter denjenigen, die sie herstellen, gibt es auch Männer, die das ihr Leben lang machen.

Es ist Mittwoch, um die Mittagszeit, als ich ankomme, der Schnee auf dem überfüllten Parkplatz hat bereits eine schwarze Farbe angenommen. Zehn Meter weiter befindet sich der Eingang, dort treffe ich jedoch niemanden an. Die Wände der Eingangshalle haben im Inneren eine türkisblaue und violette Farbe. Es ist sehr still. An den zwei Bankautomaten daneben sieht man ab und zu Menschen in Blaumännern. Zwischen mir und ihnen liegen die Einlasskontrolle und ein enger Durchgang mit Drehkreuz.

Seit Kurzem bietet die elektromechanische Fabrik Kupol in der 1 200 Kilometer von Moskau entfernten Stadt Ischewsk PR-Touren der besonderen Art an: Journalisten werden durch „geheime“ Hallen geführt, damit sie hinter den „geheimen Vorhang“ schauen können. Bisher jedoch ist der Industrietourismus gerade erst dabei, die sowjetische Tradition, alles geheim zu halten, was nur möglich ist, zu überwinden.

Das Mantra des „Verkehrspolizisten“

Sergej, ein schlanker Mann mit braunen Haaren, der ein Sakko, gute Schuhe und Jeans trägt, sagt uns, dass noch nie ein ausländischer Journalist in der Fabrik gewesen sei, aus „Gründen der Sicherheit und der Geheimhaltung“. Er ist vom Sicherheitsdienst und demonstriert seine Autorität, sobald sich die Halle mit russischen Journalisten gefüllt hat: „Was macht der Verein für Biathlonsport und die Zeitung „Sowjetskij sport“ hier? Was hat der Sport mit dieser Fabrik zu tun? Ich kann euch nicht reinlassen“, erklärt Sergej leicht verwirrt. Zwei junge Frauen müssen also draußen bleiben, die anderen gehen durch einen Innenhof und verschwinden hinter der schweren Metalltür.

Im Inneren riecht es nach Metall. Hinter den eisernen Warenregalen befinden sich die Tische der Arbeiter, aber nur wenige von ihnen halten sich dort auf. Die meisten sind gerade in der zwei Fußballfelder großen Produktionshalle unterwegs. Hinter dickem Glas sind Werkbänke zu sehen, auf denen Metallteile mit irgendeiner Lösung übergossen werden.

„Hier findet die Metallverarbeitung statt, deshalb können Sie hier nicht filmen“, teilt uns Sergej mit.

Vor uns liegt noch eine und noch eine und noch eine Tür. Dann sehen wir die „Sensation“ der MAKS-2017-Luftfahrtmesse vor uns: in zwei Reihen aufgestellte Flugabwehrraketensysteme „Tоr-М2“, deren Innenleben zu sehen ist. Man erblickt Kabel, noch mehr Metallplatten, Schrauben und Bolzen. Die Arbeiter erinnern ein wenig an Chirurgen, öffnen, operieren, nähen wieder zusammen. Sie arbeiten ohne Hast, mit Bedacht, fast schon meditativ.

„Es kommt gleich jemand zu Ihnen.“

Dieser jemand ist Aleksandr Tschirkow, ein kräftiger, mittelgroßer Ingenieur für Militärmaschinen, der unentwegt lächelt.

„Ich bin schon mein ganzes Arbeitsleben in dieser Produktionshalle, die ganzen 35 Jahre. Seit der Erfindung von „Tor“ arbeiten wir an seiner Modernisierung. Unter den Käufern befinden sich zum Beispiel das Verteidigungsministerium, spezielle Auftraggeber, wir liefern auch ins Ausland. Wir arbeiten rund um die Uhr in zwei Schichten und haben verschiedene Aufgaben“, erzählt Tschirkow und lächelt, als er vor dem „Tor-M2“ steht. „Früher war darauf noch ein Bär zu sehen, damals, als wir sie am 9. Mai auf dem Roten Platz bei der Siegesparade demonstriert haben; diese Schönheit.“

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Der 59 Jahre alte Ingenieur spricht über Flugabwehrraketensysteme, als würde er über Menschen sprechen. „Man lernt bei dieser Arbeit nie aus, ich lerne jedes Mal etwas Neues kennen. Es wird nie langweilig.“

Sich selbst bezeichnet er als „Verkehrspolizisten“: Um acht Uhr morgens verteilt er die anstehenden Aufgaben, kontrolliert die Einstellungen, geht zu den Herstellungsgeräten und schickt schließlich die „Schönheiten“ in eine Versuchskammer, in der sie Temperaturen von bis zu 50 Grad plus und minus sowie einigen Rütteltests ausgesetzt wird.

„Die Flugabwehrraketensysteme sind für tieffliegende und niedrige Zielobjekte gedacht. Jene, die schwer zu bemerken sind. Das sind die schwierigsten Ziele.“

Wieviel so ein Exemplar kostet, sagt er uns jedoch nicht: Über den Preis der Systeme wird immer einzeln verhandelt, wenn sie exportiert werden. Der Unterschied kann manchmal gewaltig sein. Tschirkow gibt sein Ehrenwort darauf, den Preis tatsächlich nicht zu kennen.

Auf der Hallenwand steht in großer Schrift währenddessen der Satz „Eine perfekte Technik ist ein sicherer Schutz“ geschrieben. Seit die Fabrik Kupol in Betrieb ging, stand es nur ein Mal schlecht um sie – in den 1990er-Jahren. „Es gab kaum Bestellungen, aber wir haben durchgehalten“, erklärt Tschirkow trocken.

Der Sicherheitswachmann Sergej geht an uns vorbei und dreht den Kopf hin und her, um zwischen den Arbeitern nach den Journalisten Ausschau zu halten.

„Nun hast du alle Geheimnisse verraten“, scherzt Tschirkow.

„Alle?“

Sergej lacht nervös. Dabei gibt es nicht den geringsten Grund, sich Sorgen zu machen. Tschirkow wählt, wie beim Militär üblich, seine Worte bewusst und macht stets eine Pause, bevor er antwortet. Auf meine Frage, ob es Spione gegeben habe, erwidert er: „Es gab keine Spione. Und dass man mir das angeboten hätte? Gab es auch nicht. Dass die Kollegen über so etwas berichtet haben? Auch nicht.“

Oder:  

„Gibt es Dinge, die Sie nicht einmal Ihrer Familie anvertrauen dürfen?“

„Ja.“

„Und wie gehen Sie damit um?“

„Na ja. Ich erzähle es dann einfach nicht. Wenn man sein ganzes Leben…“, fängt er an zu reden und unterbricht sich sogleich. „Wozu auch?“

Tschirkow hat eine einfache Regel, ein einfaches Mantra: „Erzähle nicht zu viel. Das ist das Wichtigste.“

„Das Gute muss auch Fäuste haben“

Tschirkow wurde gleich nach seinem Universitätsabschluss dieser Fabrik zugeteilt. Damals war es in der Sowjetunion üblich, dort zu arbeiten, wo man hingeschickt wurde.

„Nach der Uni konnte man nur in eine Fabrik gehen. Die ganze Geschichte der Stadt hängt mit Fabriken zusammen. Udmurtien ist eine entfernte Region und ein idealer Ort dafür, hier gab es nie etwas anderes. Die Stadt selbst ist nicht groß. Über dreißig Jahre ist hier wahrscheinlich alles im gleichen Zustand. Die Einwohnerzahl beträgt ungefähr 650 000 Menschen. Meine gesamte Familie lebt hier seit der Revolution und ist im Industriebereich tätig, ich, meine Kinder.“

„Wollten Sie in den 35 Jahren nie woanders arbeiten?“

Doch, wollte er. Dort hätte er sogar ein besseres Gehalt bekommen. Aber er sei immer durch die Kinder und Enkelkinder, durch die Wohnung an die Stadt gebunden gewesen, und auch seine Arbeit mache er an und für sich gern.

„Ich träume nur davon, endlich einmal reisen zu können. Bis zu meiner Rente und noch fünf Jahre danach darf ich nämlich in kein kapitalistisches Land reisen. Europa bleibt für mich also so lange verschlossen. Dabei mag ich es so gern.“

Wir gehen erneut durch die Halle Nummer 133, in der die Metallverarbeitung stattfindet. Aus irgendeinem Grund ist es nun, eine Stunde später, auch erlaubt, hier zu filmen.

„Gibt es etwas, dass Sie bereuen?“, frage ich Tschirkow.

Er antwortet sofort: „Ja.“ Aber mehr sagt er dazu nicht. Doch nachdem ich das Diktaphon ausgemacht habe, fügt er hinzu, dass es wichtigere Dinge gäbe, als das, was man bereut. Es gäbe auch den Imperativ, dass das Gute auch „Fäuste“ haben müsse. Er sei bei seiner Arbeit derjenige, der mithelfe, das zu ermöglichen.

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