Die neue Tarntechnologie trägt den inoffiziellen Namen Chamäleon. Sie basiert auf elektrochromem „Glas“, das aus Verbundmaterialien besteht und unter dem Einfluss von elektrischem Strom seine Farbe und Transparenz verändert.
Die ersten Muster einer solchen elektrochromen Beschichtung für die Ausrüstung der Soldaten der Zukunft wurden unter dem Namen Ratnik 2018 auf dem internationalen militärtechnischen Forum Armija in Russland gezeigt. Anfang Oktober 2021 berichtete die Nachrichtenagentur RIA Novosti unter Berufung auf eine Quelle im militärisch-industriellen Komplex, dass die neue Tarnung bereits an Attrappen gepanzerter Fahrzeuge getestet wird.
Sie funktioniert folgendermaßen: Das Kampffahrzeug ist von außen mit einem dichten Feld aus kleinen elektrochromen Platten bedeckt, an denen jeweils elektrische Drähte angeschlossen sind. Das System nutzt Videokameras, um den gesamten Bereich um das Fahrzeug herum zu erfassen. Gleichzeitig analysiert es die Farben und Grundformen der Landschaft und befiehlt den Platten, ein neues Tarnmuster zu erzeugen, das das Fahrzeug aus verschiedenen Blickwinkeln vollständig mit dem Gelände verschmelzen lässt.
Das Prinzip stammt aus der Tierwelt: Chamäleons oder Tintenfische verändern die Farbe ihrer Haut, um den Hintergrund nachzuahmen, vor dem sie sich befinden. Bewegt sich ein Oktopus beispielsweise von einem dunkleren Bereich des Meeresbodens zu einem helleren, verändert er schnell die Farbe und Textur seiner Haut.
Wie „unsichtbar“ werden gepanzerte Fahrzeuge sein?
„Diese Technologie ist nicht neu, sie wird schon seit langem im zivilen Bereich eingesetzt – es handelt sich um so genanntes intelligentes Glas, das manchmal in Besprechungsräumen in Unternehmen eingesetzt wird. Solange der Sitzungssaal leer ist, ist das Glas transparent, sobald er besetzt ist, ist es getönt. Dennoch hat dieses militärische Design durchaus etwas Innovatives an sich. Eine solche Beschichtung muss sich in kürzester Zeit bestmöglich an die Landschaft anpassen, gegen aggressive Umwelteinflüsse resistent, zuverlässig und kostengünstig sein“, erklärte Denis Fedutinow, Chefredakteur der Zeitschrift Bespilotnaja awiazija (dt.: unbemannte Luftfahrt).
Ihm zufolge werden mit der massenhaften Ausstattung der Bodenausrüstung der russischen Armee mit solchen „Umhängen“ etwa 95 % der Aufklärungsdrohnen eines potentiellen Gegners praktisch unbrauchbar werden.
„Die Mehrzahl dieser Drohnen gehört zur kleinen Klasse. Sie verfügen weder an Bord noch in den Bodenkontrollsystemen über die Hardware zur Verarbeitung und Analyse der empfangenen Videodaten. Die Datenanalyse erfolgt direkt durch den Drohnenbediener, d. h. einen Menschen. Mit einer solchen Spezialschicht getarnte Technik wäre wirklich schwer zu erkennen und zu identifizieren“, bemerkte Fedutinow.
Dem Experten zufolge kann die Chamäleon-Beschichtung besonders effektiv sein, da Aufklärungsdrohnen versuchen, auf Distanz zum Feind zu bleiben, damit sie selbst nicht gesehen werden.
Chamäleon ist jedoch kein Allheilmittel für den Schutz russischer Ausrüstung, da es nur für einfache Aufklärungsdrohnen ein Problem darstellt (obwohl diese etwa 95 % aller verfügbaren Drohnen ausmachen). Wenn eine Drohne in der Lage ist, gleichzeitig Aufklärungsgeräte einzusetzen, die in verschiedenen Frequenzbändern arbeiten, wird die Wirksamkeit von Chamäleon. erheblich reduziert.
Darüber hinaus ist diese Beschichtung nur in der Lage, gegnerische Waffen zu stören, die mit video-optischen Zielsuchköpfen ausgestattet sind. „Die Verwendung elektrochromer Beschichtung kann die automatische Zielerkennung solcher Raketen verhindern. Das gilt sowohl für Zielköpfe mit Fotokontrast- als auch mit Mustererkennung“, sagt der Experte.
Trotz dieser Einschränkungen ist dieses System nach Ansicht von Fedutinow ein leistungsstarkes zusätzliches Feature für unsere Armee. Fahrzeuge mit Mimikry werden im Kampf bessere Überlebenschancen haben als Fahrzeuge mit herkömmlicher statischer Tarnung, so der Experte.
In einem Gefecht zwischen motorisierten Infanterieeinheiten zweier vergleichbarer Gegner wird die Seite mit der Chamäleon-Tarnung ihrem Gegner in Bezug auf die Länge des OODA-Loops (Observe – beobachten, Orient – orientieren, Decide – entscheiden, Act – handeln) deutlich im Vorteil sein. Schließlich wird eine Nachahmungstechnik vom Feind nicht oder nur mit großer Verzögerung entdeckt werden.
Wie kann man eine solche Verkleidung erkennen?
Drohnen einer höheren Technologieklasse mit fortschrittlichen Mehrkanal-Aufklärungs- und Überwachungssystemen sowie automatisierten Informationsverarbeitungs- und Analysesystemen an Bord dürften die Chamäleons jedoch aufspüren. Dies wurde Russia Beyond anonym von einem Vertreter eines der führenden russischen Drohnenhersteller berichtet.
„Fluggeräte, die nicht einmal mit Wärmebildkameras (für die diese Tarnung kein Problem darstellt), sondern lediglich mit optischen Sensoren ausgestattet sind, können solcher Art getarnte Militärtechnik erkennen. Sowohl hochauflösende Kameras als auch automatische Algorithmen zur Informationsverarbeitung und zum maschinellen Lernen helfen ihnen dabei“, so die Quelle.
Der Spezialist erläuterte, dass beispielsweise ein gut trainiertes neuronales Netz einer modernen Hightech-Militärdrohne in einer bildüberladenen städtischen Umgebung problemlos eine bestimmte Automarke identifizieren kann – sogar wenn nur ein Teil der Motorhaube hinter einem Baum hervorschaut.
„Für teurere Drohnen mit einem neuronalen Netz und entsprechenden Sensoren wäre es nicht schwierig, einen Panzer anhand seines Geschützrohrs zu erkennen, das aufgrund der dynamischen Belastungen beim Abschuss kaum mit einer elektrochromen Beschichtung versehen werden kann. Das neuronale Netz einer solchen Drohne würde den Schatten des Fahrzeugs, die Spuren seiner Panzerketten, das Maschinengewehr, die Antennen, die Beobachtungstechnik, die Abgase usw. erkennen. Das heißt, eine ganze Reihe von Details, die die Tarnung zunichte machen“, merkt der Experte an.
Dennoch, so der Vertreter des russischen Drohnenentwicklers, wird die neue Tarnung, wenn sie in großem Maßstab eingesetzt wird, ein Problem für menschliche Drohnen- und Flugwaffenbediener sowie für Bediener und Beobachter bodengestützter optischer Überwachungssysteme und Schützen von Kampffahrzeugen darstellen.
„Wenn Russland eine solche Beschichtungen massiv einsetzt, müssen die NATO-Länder beispielsweise über neue Militärausgaben für die Technologie neuronaler Netze und Big-Data-Verarbeitungskomplexe für Drohnen und deren Bodenkomplexe, für Hubschrauber oder die Hardware von Kampffahrzeugen nachdenken“, lautet das Fazit des Experten.