Warum schickt Russland so wenige Frauen ins All?

Jakow Chalip/Sputnik
Innerhalb eines halben Jahrhunderts waren nur fünf russische Frauen im Weltraum. Stimmt es, dass russische Frauen nicht ins Weltall fliegen wollen?

„Unsere Forschungen des letzten halben Jahrhunderts oder sogar eines noch längeren Zeitraums zeigen, dass es zwischen Männern und Frauen [im Weltraum] keinen grundlegenden Unterschied gibt“, sagte Anatoli Grigorjew, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für medizinische und biologische Probleme, bereits im Jahr 2014. Und diese Position wird in fast allen Ländern mit einem eigenen Raumfahrtprogramm vertreten.

Von einer ausgewogenen Beteiligung von Männern und Frauen an der Raumfahrt sind wir jedoch noch weit entfernt: Weltweit machen Frauen nur 11 % der Teilnehmer an Raumflügen aus. Mit insgesamt 53 von ihnen stammt die überwiegende Mehrheit dieser Frauen aus den USA. In der 61-jährigen Geschichte der bemannten Raumfahrt schickte Russland bisher nur fünf Frauen ins All. Das ist nicht genug. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es im aktiven russischen Kosmonautenkorps immer noch nur eine Frau gibt: Die im Jahr 2012 aufgenommene Anna Kikina. Wie ist diese Situation zu erklären?

Auf wen die Wahl fiel

Die Sowjetunion war das erste Land, das eine Frau ins All schickte. Sie war die 25-jährige Walentina Tereschkowa. Im Jahr 1963 umrundete sie 48 Mal die Erde.

Walentina Tereschkowa.

Die ersten Kosmonautinnen wurden nicht nur nach ihren psychophysischen Qualitäten ausgewählt (in dieser Hinsicht war Tereschkowa den anderen Kandidatinnen für einen Flug ins All unterlegen und war eher „die Schlechteste unter den Besten“). Dafür punktete sie mit ihrer Herkunft, ihrem Lebenslauf, ihrer Parteizugehörigkeit und Begabung, wirksam in der Öffentlichkeit aufzutreten (hier unser Artikel zum Weiterlesen). Die Entsendung einer Frau in den Weltraum war zunächst vor allem ein politisches Zeichen.

Der sich in den folgenden 19 Jahren fortsetzende Stillstand bestätigte dies. Tereschkowa war die erste und stellte einen Weltrekord auf, der bis heute von niemandem gebrochen wurde - sie flog auf einer Solo-Mission (später wurden Frauen nur noch auf gemeinsamen Missionen eingesetzt). Ihre Fehler und ihr schlechter Gesundheitszustand während des Fluges führten jedoch dazu, dass die Starts der Frauen ausgesetzt wurden.

Die nächste Frau in All war Swetlana Sawizkaja im Jahr 1982. Die ausgebildete Fluglehrerin stellte vor ihrer Weltraumreise drei Weltrekorde im Stratosphärensprung und 18 Flugzeugrekorde in Jets auf. Sie absolvierte zwei Raumflüge, und bei ihrem zweiten Flug im Juli 1984 war sie die erste Frau der Welt, die einen Raumspaziergang unternahm.

Swetlana Sawizkaja.

Die Geschichte der sowjetischen Kosmonautinnen ist damit noch nicht zu Ende. Die nächste, die Ingenieurin Jelena Kondakowa, nahm in den 1990er Jahren an zwei Weltraummissionen teil, von denen eine fünf Monate dauerte. Seitdem war keine Frau mehr so lange in der Erdumlaufbahn.

Jelena Kondakowa.

Siebzehn Jahre später, im Jahr 2014, ging die Ingenieurin Jelena Serowa an Bord der ISS; sie war die vierte.

NASA-Astronaut Barry Wilmore, Kosmonauten Alexander Samokutjaew und Jelena Serowa.

Die fünfte und bisher letzte Frau war die 37-jährige Schauspielerin Julija Peressild. Sie ist bisher die einzige Kosmonautin, die vor dem Flug in keiner Weise mit dem Weltraum in Verbindung stand. Einst übernachtete sie für ihre Karriere auf einem Bahnhof, jetzt startete sie zur ISS, wo sie am Drehort des weltweit ersten Spielfilms im Weltraum mitwirkte und damit  Tom Cruise den Rang ablief.

Kosmonaut Anton Shkaplerov, Schauspielerin Julia Peresild und Regisseur Klim Schippenko.

Mehr Astronautinnen ausgebildet als ins Weltall gebracht

In den Anfängen der bemannten Raumfahrt wurden sowohl in der UdSSR als auch bei der NASA Bedenken geäußert, die weibliche Physiologie könnte dem Einsatz von Astronautinnen in der Raumfahrt im Wege stehen. So vermuteten die Ärzte zum Beispiel ernsthaft, dass während der Menstruation in der Schwerelosigkeit Blut über die Eileiter in die Bauchhöhle statt nach außen gelangen könnte.

Als weiterer kritischer Punkt galten die vermeintlichen Auswirkungen auf die Fortpflanzungsfähigkeit der Frauen. Nach dem ersten Start stellte sich jedoch heraus, dass diese Bedenken unbegründet waren: Tereschkowa brachte ein Jahr nach ihrer Mission eine gesunde Tochter zur Welt. Später tat dies auch Sawizkaja. Die Befürchtungen bezüglich der Menstruation bewahrheiteten sich nicht. In der Wissenschaft ging man bereits damals davon aus, dass sich Frauen im Weltraum nicht von Männern unterscheiden.

Valentina Tereshkova mit ihrer Tochter.

Wie der Forscher Anatoli Grigorjew hervorhob, wurden in der Sowjetunion zwar nur wenige weibliche Kosmonauten ins Weltall geschickt, dennoch aber viele dafür ausgebildet. Valentin Gluschko, der damalige Hauptkonstrukteur von NPO Energia, verfolgte das Ziel, die weibliche Weltraumfahrt zu voranzubringen. Er wollte eine rein weibliche Besatzung starten. Zu diesem Zweck wurde in den späten 1970er Jahren eine ganze Gruppe von Kosmonautinnen im Institut für medizinische und biologische Probleme einer medizinischen Untersuchung unterzogen. Etwa zehn Frauen durchliefen eine spezielle Ausbildung, vier von ihnen wurden schließlich ausgewählt. Alle waren Ärztinnen: eine Gastroenterologin, eine Intensivmedizinerin, eine Endokrinologin und eine Fachärztin für hormonelle Regulierung. Der Start der weiblichen Besatzung war für Mitte der 1980er Jahre geplant. Die Befehlshaberin sollte Swetlana Sawizkaja sein.

Svetlana Savitskaya (Mitte) beim Training in der Schwerelosigkeit.

„Aber die jungen Frauen hatten Pech. Auf der Orbitalstation gab es Probleme - Wladimir Wasjutin war erkrankt. Die geplante Weltraumfahrt der Frauen trat zunächst in den Hintergrund. Innerhalb der folgenden drei oder vier Jahre wurde dieses Programm ganz eingestellt. Und in den frühen 1990er Jahren dachte niemand mehr an das Vorhaben", sagt Grigorjew.

Personelle Engpässe

Doch auch 2019 erklären einige Kosmonauten den geringen Anteil von Frauen unter den Raumfahrern mit deren körperlichen Konstitution. Allerdings sorgen entsprechende Äußerungen heute nur noch für Empörung, wie im Fall des Sergej Rjasanskij, der in der Sendung „Einfach über Schwieriges“ (prosto o sloschnom) sagte: „Jungen haben eine einfache Physiologie, wir haben stabile Hormonspiegel. Niemand wird Raketenstarts, Weltraumspaziergänge oder Notfälle an den weiblichen Zyklus anpassen". Es hagelte  Kritik aus den Reihen seine Kollegen, die darauf hinwiesen, dass dies die NASA keineswegs daran hindert, zahlreiche Astronautinnen in den Weltraum zu entsenden. Rjasanskij bot eine andere Erklärung an: Demnach wollen Russinnen angeblich wegen ihrer Familienorientierung nicht ins All fliegen.

Kosmonautin Jelena Serowa bei einer Trainingseinheit.

„Jungen sind mit ihrem Eroberungswillen immer auf der Suche nach Abenteuern, Heldentaten. Mädchen sind bodenständiger - ihre Bestimmung sind Familie, Kinder", sagte Rjasanskij. 

„Aus physiologischer Sicht gibt es keine Hindernisse für Frauen, in den Weltraum zu fliegen", bekräftigt der Raumfahrtmediziner und Initiator des Mars-500-Projekts (ein Experiment zur Simulation eines Flugs zum Mars) Mark Belakowski. „Meiner Meinung nach gibt es zwei Probleme, die einer russischen Frau in der Besatzung der Internationalen Raumstation im Wege stehen: die nationale Mentalität und die subjektive Beurteilung".

Was die nationale Mentalität angeht, so geht es eher um die vorherrschende Meinung, dass die Weltraumfahrt etwas für Männer ist. Wie die Kosmonautin Jelena Serowa erklärt, gab es bereits zu Sowjetzeiten eine unausgesprochene Tradition, bestimmte Berufe den Männern vorzubehalten. „Die Ursprünge dafür liegen in der Zeit des Krieges [Zweiter Weltkrieg], der große Verluste in der Bevölkerung mit sich brachte und in dem Frauen keine Männerberufe ergreifen durften, um ihre Gesundheit zu erhalten. Das ist ein Vorurteil, das leider in uns verankert ist“, erklärt sie.

Laut Witali Jegorow, der sich für eine Gleichberechtigung von Frauen in der Raumfahrt einsetzt, gibt es noch einen weiteren Grund, der es den Frauen erschwert, Kosmonautin zu werden und ins All zu fliegen. „In der russischen Kosmonautik gibt es keine Trennung der Standards für Männer und Frauen. Bei allen sportlichen Wettbewerben bis hin zu den Olympischen Spielen gibt es eine solche Unterscheidung, aber nicht hier. Selbst wenn eine Frau gesund und gut ausgebildet ist, wird es für sie schwieriger sein, die von Männern gesetzten Standards zu erfüllen. Bei der NASA sind die Standards für Männer und Frauen ebenfalls gleich (zumindest einige davon), aber sie sind auf weiblichem Niveau festgelegt.“ Der Grund dafür ist der Konservatismus der russischen Kosmonautik, sagen Experten. „Was auch immer der Roskosmos-Chef sagen mag, auf den unteren Ebenen wollen daher alle so arbeiten wie früher: mit Männern".

Diese Haltung hat eine schwerwiegende Folge, nämlich eine „angespannte Personalsituation“, wie der Aufnahmeausschuss von Roskosmos selbst sagt. Die Situation soll sich nun ändern. So war am Experiment „Luna 2015“, das eine bemannte Mission zum Mond simulieren sollte, eine sechsköpfige Frauencrew beteiligt, die acht Tage lang auf engem Raum verbrachte. „Wir haben absichtlich eine solche Crew zusammengestellt, um auf die Bedeutung weiblich besetzter Raumfahrtmissionen aufmerksam zu machen. Die Teilnehmerinnen des Experiments haben gute Arbeit geleistet und sich gut geschlagen. Anschließend nahmen einige von ihnen am SIRIUS-17-Experiment (Scientific International Research In Unique Terrestrial Station) teil und andere helfen jetzt bei der viermonatigen Isolationsstudie", so Mark Belakowski.

Weibliche Besatzung des

Für 2019 kündigte das staatliche Unternehmen Roskosmos eine neue Rekrutierungskampagne für Kosmonauten an und forderte offen eine „aktivere“ Beteiligung von Frauen. „Wir möchten keine künstliche Parität erzwingen. Wir gehen jedoch davon aus, dass Russlands junge Frauen die gleichen strengen Anforderungen, die an Kosmonauten gestellt werden, sicher bestehen können und ihre Teilnahme mehr Ausgewogenheit in einem männlich geprägten Umfeld schaffen kann“, sagte Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin damals.

Aber auch danach blieben die Frauen glücklos. Von den 2 200 Bewerbern schafften es 64 in die engere Wahl, darunter neun Frauen. Keine von ihnen bestand den Test auf physische Belastbarkeit.

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