Wie sowjetische Linguisten Schriftsysteme für die indigenen Völker des Hohen Nordens schufen

Der Evenk-Sprachkurs, sowjetische Zeit.

Der Evenk-Sprachkurs, sowjetische Zeit.

Wladimir Matwijewskij/TASS
In den entlegensten Regionen Russlands leben Menschen, die seltene Sprachen sprechen, für die es vor der Revolution keine Schriftsprache gab. Nenzen, Chanten, Korjaken, Tschuktschen und viele andere erhielten ihr Alphabet erst während der Sowjetära.

Mehr als 40 kleine indigene Völker leben im Hohen Norden Russlands. In vielen Gebieten, die über das ganze Land verstreut sind, kann man die unterschiedlichsten Sprachen hören. Und die meisten von ihnen hatten vor einem Jahrhundert noch nicht einmal eine Schriftsprache.

Ausrottung des Analphabetismus

Russland war schon immer ein multinationales und mehrsprachiges Land, aber erst nach der Revolution von 1917 wurde seinen Einwohnern eine allgemeine Bildung ermöglicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten nur 20-30 % der Russen lesen und schreiben, und in Sibirien und im Fernen Osten war dieser Anteil noch deutlich niedriger.

Junge tschuktschische Schüler in der Schule.

Gemäß dem Dekret zur Beseitigung des Analphabetismus in der RSFSR von 1919 war die gesamte Bevölkerung verpflichtet, Lesen und Schreiben zu lernen. Es bestand die Möglichkeit, entweder Russisch oder (für ethnische Nicht-Russen) die eigene Muttersprache zu wählen. Die Politik der Korenisazija (dt.: Einwurzelung) war, wie viele Historiker betonen, für die neue Regierung notwendig, um nicht nur in der russischen Bevölkerung, sondern auch bei anderen Völkern Unterstützung zu finden. Lehrbücher (auch für Erwachsene) wurden in 40 verschiedenen Sprachen herausgegeben, darunter in Tschuwaschisch, Tatarisch und Usbekisch.

Eskimoschule in Sibirien.

All dies gab Anlass zur wissenschaftlichen Erforschung der seltenen Sprachen der Völker Russlands, von denen viele nicht einmal eine Schriftsprache besaßen. Obwohl im 19. Jahrhundert auch verschiedene Versuche zur Schaffung einer Schriftsprache unternommen worden waren, führte erst der systematische Ansatz sowjetischer Wissenschaftler zu nachhaltigen Ergebnissen.

Erste Fibeln für Selkup-Schüler.

Ein einheitliches nördliches Alphabet

In den 1920er Jahren identifizierten sowjetische Wissenschaftler 26 indigene Völker des Nordens, zu denen etwas mehr als 135.000 Menschen gehörten. Sie waren größtenteils Rentierzüchter und Jäger von Meerestieren und gehörten verschiedenen Sprachfamilien an, die zudem in eine Vielzahl von Dialekten aufgespalten waren.

Einheitliches nördliches Alphabet.

Zur Lösung dieses sprachlichen Problems wurde 1926 am Leningrader Orientalischen Institut (seit 1930 Institut der Völker des Nordens) die Abteilung für Nordstudien gegründet. Im Jahr 1929 entwickelten die Experten des Instituts ein einheitliches nördliches Alphabet. Ursprünglich handelte es sich um ein lateinisches Alphabet mit zusätzlichen Buchstaben und diakritischen Zeichen, das für die 16 Sprachen der Völker des Nordens (Samen, Nenzen, Selkupen, Mansen, Chanten, Ewenken, Ewenen, Nanaien, Udegen, Itelmenen, Tschuktschen, Korjaken, Eskimo, Aleuten, Keten und Niwchen) verwendet wurde. Natürlich wurde in den verschiedenen Alphabeten eine unterschiedliche Anzahl von Buchstaben und Zeichen verwendet, und einer der populärsten Dialekte der jeweiligen Sprache wurde als Literaratursprache verwendet, aber die gemeinsame Grundlage vereinfachte die Erstellung von Lehrbüchern erheblich.

Der Weg zur Schule in Tschukotka.

Doch Mitte der 1930er Jahre änderte sich die Sprachpolitik grundlegend. Alle Alphabete wurden durch kyrillische Schriftzeichnen ersetzt (Details hier) und die Schulen begannen, den Schwerpunkt auf das Erlernen der Landessprache zu legen.

Dies hatte zur Folge, dass viele indigene Sprachen nicht in das kyrillische Alphabet übertragen wurden, ja sogar aus dem Lehrplan gestrichen wurden und die Veröffentlichung von Literatur und Zeitungen in diesen Sprachen eingestellt wurde. In den 1960er Jahren begannen die Öl- und Gasfelder im Norden aktiv erschlossen zu werden, was Fachleute aus allen Republiken anzog, und Russisch zur Verkehrssprache werden ließ. Einige „nördliche“ Wörter sind jedoch in unser Alltagsleben eingewandert. So stammt beispielsweise das Wort Parka (Jacke) aus dem Nenzischen.

Die Schule in der Tschuktschensiedlung Konergino.

Das wissenschaftliche Interesse an den nördlichen Sprachen erwachte erst erneut in den 1970er und 1980er Jahren. Zu dieser Zeit begannen Sprachwissenschaftler wieder, auf wissenschaftlichen Expeditionen zu den nördlichen Völkern zu reisen.

Gertsen Leningrader Pädagogisches Institut, jetzt - Institut der nördlichen Völker, St. Petersburg. 1977.

1988 erhielt die Sprache der Tofalaren eine offizielle Schrift (lesen Sie mehr darüber in diesem Artikel), in den 1990er Jahren das Aleutische, 2003 das Tschulymische (die beliebte Ethno-Band OTYKEN singt in dieser Sprache).

Wie die nördlichen Sprachen heute unterrichtet werden

Moderne Sprachwissenschaftler unterscheiden heutzutage etwa 40 kleine indigene Völker Sibiriens und des Fernen Ostens, wobei nicht alle Angehörige die Sprache ihres Volkes beherrschen. So spricht lediglich jeder zweite der 50.000 Nenzen seine Muttersprachen, bei den Keten sind es gar nur 150 der 1.100 Angehörigen und von den 300 Vertretern des Orok-Volkes (oder Ulta) sind es weniger als 50. Und lediglich drei Personen sprechen fließend Tofalarisch! Gleichzeitig steigt das Alter der Sprecher rapide an.

Kinder in der Nähe des Dorfes Kanchalan, Autonomer Bezirk der Tschuktschen.

Sprachwissenschaftler haben festgestellt, dass es unter den nördlichen Völkern viele bilinguale Bewohner gibt.

In den Schulen, in denen Kinder aus dem Norden lernen, werden seit Ende der 1980er Jahre wieder indigene Sprachen unterrichtet, allerdings nur in den ersten Klassen oder als Wahlfach. In einigen Regionen gibt es auch Sprachkurse für Erwachsene, sowohl vor Ort als auch online.

Schule in Eveno-Bytantaisky national ulus (Bezirk), Jakutien.

Die einzige verbliebene ungeschriebene Sprache des Nordens ist die des Volkes der Enzen in Taimyr, das nicht mehr als 300 Mitglieder zählt (von denen nur noch 40 ihre Muttersprache beherrschen). Sprachwissenschaftler an der Sibirischen Föderalen Universität in Krasnojarsk arbeiten seit 2018 an der Erstellung einer offiziellen Schrift für das Enzische.

Nördliche Sprachen werden sowohl am Pädagogischen Institut Tomsk als auch an der Staatlichen Universität Moskau gelehrt. Lehrer für die seltensten nördlichen Sprachen der Welt werden jedoch in Russland am Institut für die Völker des Nordens ausgebildet. Nur hier kann man Itelmisch, Dolganisch, Orokisch und andere Sprachen lernen, deren Sprecher in den entlegensten Dörfern Russlands leben.

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