Pierre Gilliard: Der Hauslehrer der Romanows – Wie durch ein Wunder überlebt

Alexei Danitschew/Sputnik; Archivfoto
Wie ungewöhnlich kann sich die Laufbahn eines Französischlehrers entwickeln? Pierre Gilliard unterrichtete die Romanow-Töchter und kämpfte später gegen die Bolschewiki.

Als der Schweizer Pierre Gilliard 1920 Russland in Wladiwostok an Bord eines amerikanischen Schiffes verließ, hegte er Groll. „Tief im Inneren bleibt die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse, die ich miterleben musste. Ich habe gesehen, wie eines der größten Weltreiche gemeinsam mit seinen Monarchen untergegangen ist”, lautet ein Tagebucheintrag.

Gilliard hatte die letzten drei Jahre in Sibirien verbracht - zuerst gemeinsam mit seinen royalen Zöglingen, später dann alleine. Er wusste, dass sie alle tot waren, erschossen von den Bolschewiki. Die Tatsache, dass er überlebt hatte, war ein Wunder. 

Ein Schweizer bei Hofe 

Französischlehrer Pierre Gilliard und seine Schülerin Großherzogin Olga während des Unterrichts

16 Jahre zuvor, im Jahr 1904, begann Gilliards russisches Abenteuer vielversprechend. Ursprünglich war er als Französischlehrer beim Herzog Georg von Leuchtenberg, einem Cousin der Romanows, angestellt. Doch bald wechselte er an den Zarenhof. Olga und Tatjana, die älteren Töchter von Nikolaus II. und Zarin Alexandra, brauchten einen Hauslehrer.

Anna Matwejewa von „SWI Swissinfo” weiß (rus), dass es zur damaligen Zeit im kaiserlichen Russland üblich gewesen ist, Schweizer als Französischlehrer einzustellen. „Die meisten Schweizer Emigranten waren Protestanten, die Russen zogen sie den Katholiken vor.“ Rund 6.000 Eidgenossen lebten damals im Russischen Reich, so Matwejewa.  

Der Lehrer der Royals 

Ab 1909 lebte Gilliard in St. Petersburg und besuchte fünfmal pro Woche Zarskoje Selo (die kaiserliche Residenz in der Nähe). Bald wurde er der Lehrer aller vier Zarentöchter und bemühte sich, ihnen fließend Französisch beizubringen.

Gilliard mit Olga and Tatjana im Liwadija-Palast auf der Krim (1911)

Das war keine einfache Aufgabe, schrieb er in seinen Memoiren: „Meine Schüler machten nur langsam Fortschritte. Die Zarenfamilie verbrachte oft viele Monate auf der Krim. Ich bedaure, dass sie nicht von einer französischen Gouvernante begleitet wurden, um Französisch zu sprechen. Ohne meinen Unterricht haben sie jedes Mal viel vergessen.”

Dennoch beschrieb er die Großherzoginnen als kluge und wohlerzogene junge Damen, die sehr lernwillig waren. 

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Ein Freund der Familie 

Allmählich wurde Gilliard mehr als nur ein Lehrer - er freundete sich mit den Romanows an, und die Zarin vertraute ihm an, Zarewitsch Alexei, den kostbaren Thronfolger, der an der genetischen Krankheit Hämophilie litt, zu unterrichten.

„Ohne Zweifel führte diese Krankheit ... zu der tragischen Einsamkeit der Zarenfamilie, die sich ins Private zurückzog und große Sorgen hatte, die sie aber vor allen Menschen verbergen musste”, notierte Gilliard. Historiker sind seiner Meinung: Mit der Krankheit ihres Sohnes überfordert, verloren Nikolaus und Alexandra die Kontrolle über das Land. 

Pierre Gilliard und Zarewitsch Alexei

Gilliard verehrte Alexei wie den Rest der Familie. „Wenn er konnte, hat er das Leben genossen und war ein fröhlicher Junge. Er hat sich nie gerühmt, der Thronfolger zu sein. Es war das Letzte, woran er dachte… Alexei war das Zentrum der Familie, alle Hoffnungen und alle Liebe konzentrierten sich auf ihn.” 

Es war Gilliard, der Alexei über die Abdankung des Zaren im März 1917 informierte. „Wer regiert jetzt Russland?”, habe der Junge gefragt. Dabei habe er sich nicht um sich gesorgt, sondern nur um die Familie. 

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Harte Zeiten 

Ein Foto der Romanow-Kinder, aufgenommen von Gilliard. Die Köpfe der Kinder wurden während der Masernepidemie rasiert. Zarin Alexandra mochte dieses Foto nicht, weil sie „körperlose“ Köpfe für ein schlechtes Omen hielt.

Als 1917 das russische Reich zusammenbrach und die Romanows die Herrschaft abgeben mussten, folgte ihnen Gilliard in den Arrest, zunächst nach Zarskoje Selo, dann nach Tobolsk.

„Gilliard war vollständig von der Schweiz abgeschnitten. Er schrieb an Vater und Bruder, ohne zu wissen, ob seine Briefe jemals gelesen werden sollten”, schrieb Gilliards Biograph Daniel Girardin. Gilliard blieb stets pflichtbewusst und erinnerte seine Verwandten noch während der Revolution daran, auch ihre Steuererklärung rechtzeitig abzugeben. 

Ebenso wie das Kaiserpaar versuchte auch der Lehrer, den Alltag aufrechtzuerhalten, die Kinder aufzuheitern und sie natürlich auch weiter zu unterrichten. Gilliard hat die Zarenfamilie auch weiterhin fotografiert. Ihm sind viele Aufnahmen der letzten Romanows zu verdanken.

Im April 1918 trennte ein bolschewistischer Kommissar die Familie: Nikolaus II., Alexandra und Maria wurden nach Jekaterinburg verlegt, während Gilliard angewiesen wurde, bei den übrigen Kindern zu bleiben. Im Mai wurde die Familie in Jekaterinburg wieder vereint - aber die Bolschewiki ließen Gilliard plötzlich gehen, ebenso wie den Englischlehrer Sydney Gibbes und Alexandra Teglewa, Gilliards zukünftige Frau. 

Pierre Gilliard und der ehemalige Zar Nikolaus II. sägen Holz in Tobolsk (1918)

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Abschied aus Russland für immer 

„Ich verstehe immer noch nicht, warum die Bolschewiki uns am Leben und frei ließen”, schrieb Gilliard. In der Tat war es nur ein glücklicher Zufall: In Tjumen wären er, Teglewa und Gibbes beinahe erschossen worden. „Er sprach fließend Russisch und erklärte [den Bolschewiki], er sei völkerrechtlich geschützt. Dabei winkte er mit seinem schweizerischen Pass”, heißt es bei Girardin. Das rettete ihn. 

Bald darauf erreichte die anti-bolschewistische weiße Armee Tjumen und befreite ihn und seine Gefährten. Der ehemalige Lehrer engagierte sich im Bürgerkrieg, arbeitete beim Geheimdienst und als Übersetzer in der Weißen Armee. Mit den Weißen zog er nach Jekaterinburg ein - nur um herauszufinden, dass die Romanows, die er so sehr liebte, am 17. Juli 1918 allesamt erschossen worden waren. Er konnte nicht glauben, dass die Bolschewiki sogar die Kinder getötet hatten, aber es war leider die Wahrheit. Der Rest ist Geschichte. 

In den Jahren 1918 bis 1920 erlangten die Bolschewiki wieder die Kontrolle über das Land, und Gilliard zog sich mit der Weißen Armee zurück, was ihn nach Wladiwostok und schließlich zurück in seine eidgenössische Heimat führte. Er heiratete Teglewa und versprach ihr, sobald es eine Gelegenheit gäbe, würden sie nach Russland zurückkehren - aber diese Gelegenheit kam nie. Gillard starb 1962 im Alter von 83 Jahren in der Schweiz.  

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