Woran denken Sie, wenn Sie die Worte „Mütterchen Russland“ hören? Weite Felder und wilde Wälder? Militärische Macht, marschierende Soldaten und rote Flaggen? Grimmige Männer und hübsche Frauen? Schnee? Wodka? Sie merken schon, solche Bilder sind voll von kulturellen Klischees. Ähnlich wie die Darstellung Frankreichs mit Baguettes, Barettes, Wein, Käse und häufigen Streiks.
Im Falle Russlands ist schon der Name „Mütterchen Russland“ ein Klischee – die Bezeichnung wird fast nur von Ausländern und in Fremdsprachen benutzt. Kein echter Russe würde „Matuschka Rossija“ (so die wörtliche Übersetzung) sagen.
Wer es trotzdem versucht, der erntet entweder fragende Blicke oder wirkt wie ein bärtiger russischer Patriot aus dem 19. Jahrhundert, der die Regentschaften zahlreicher Romanows miterlebt hat und Dostojewski und Tolstoi persönlich kannte. Selbst wenn man es ironisch verwendet, wirkt es eher seltsam als lustig.
Wenn Russen ihren Patriotismus oder ihre tiefe Verbundenheit mit Russland betonen wollen, benutzen sie meist das Wort „Rodina“ („Heimat“), das von dem altrussischen Wort „rod“ („Familie“) abgeleitet ist. Alternativ kann man auch „otetschestwo“ („Vaterland“) sagen. Das klingt zwar schon etwas hochgestochen, ist aber immer noch deutlich besser als „Mütterchen Russland“.
„Mutter Heimat ruft!“ (In der Hand hält die Mutter Heimat den Text des sowjetischen Militäreides)
Iraklij Toidse, 1941Das alles bezieht sich jedoch nur auf die konkrete Wortwahl – die metaphorische Darstellung Russlands als Mutter gab es in der Geschichte durchaus. Insbesondere im 19. Jahrhundert war es weltweit sehr verbreitet, Länder als väterlich oder mütterlich wirkende Figuren darzustellen.
„Mythische Ideen vom Heimatland als Quelle von Leben, Fruchtbarkeit und Geborgenheit sind in vielen Nationen verbreitet“, schreibt (rus) Oleg Rjabow. Der Professor forscht an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg zu Symbolen in der Politik und hat bereits mehrere Publikationen zu dem Thema veröffentlicht. In Russland, so betont Rjabow, war das Bild von „Mütterchen Russland“ vor allem während der Konflikte und Kriege mit dem Westen im 18. und 19. Jahrhundert wichtig.
Der Westen wurde als rational, pragmatisch, eingebildet und unreligiös angesehen. Der russische Staat sah sich selbst dagegen als liebend, selbstlos, bodenständig und gläubig. Personifiziert wurde dieses Selbstbild in der Idealvorstellung durch eine russische Mutter.
„Für die Mutter-Heimat!“
Iraklij Toidse, 1941Auch im Zweiten Weltkrieg wurde das Bild des Mutterlandes als Frau, die von ihren Söhnen und Töchtern beschützt werden muss, angewendet. Ein Beispiel hierfür ist die monumentale Statue in Wolgograd (ehemals Stalingrad), die an den Sieg der sowjetischen Truppen in der Schlacht von Stalingrad 1943 erinnern soll. Diese war eine der wichtigsten Schlachten im Zweiten Weltkrieg und markierte das Ende des deutschen Vordringens an der Ostfront. Die Statue stellt eine Frau dar, die ihr Volk mit erhobenem Schwert zum Kampf aufruft – sicherlich ein großes patriotisches Symbol. Und tatsächlich heißt sie „Rodina-mat sowjot“ („Mutter Heimat ruft“). Aber eben „Mutter Heimat” und nicht „Mütterchen Russland”.
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