Entlarvt: Mythen und Fakten zur Gründung von St. Petersburg

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Hat die Errichtung St. Petersburgs in der Tat viele Menschenleben gefordert? Hat sich der Fluch von Peters erster Frau gegen die neue Hauptstadt erfüllt?

Mythos 1:  Gegründet auf einem unbebauten Gebiet in den Sümpfen 

Der Ort war keinesfalls unbebaut. Bereits im Jahr 1300 wurde hier eine schwedische Festung mit dem Namen Landskrona errichtet. 1611 nahm die Festung Nyenskans ihren Platz ein, die sich um die schwedische Stadt Nyen befand.

Aufgrund der strategisch günstigen Lage am Meer und durch den Zusammenfluss mehrerer Flüsse entwickelte sich die Stadt Nyen im 17. Jahrhundert zu einem großen Handelszentrum. Daher entschloss sich Peter der Große im Jahre 1703, Nyen während des Nordischen Krieges zwischen Russland und Schweden zu erobern. 

Der Zar plante an diesem Ort eine neue Stadt zu errichten, um die militärische Präsenz auf schwedischem Territorium weiter zu festigen und Russlands Zugang zur Ostsee zu sichern. 

Es gibt allerdings eine merkwürdige historische Tatsache: Als die russische Hauptstadt 1712 nach St. Petersburg verlegt wurde, befand sich die Stadt noch formell auf schwedischem Gebiet. Die Region um St. Petersburg herum gehörte erst nach dem Ende des Nordischen Krieges 1721 vollständig zum russischen Territorium.

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Wie entstand nun dieses weithin bekannte Sumpf-Gerücht? 1705, zwei Jahre nach der Neugründung der Stadt, war ein Fünftel ihres Territoriums ein Marschland. Ein riesiges Sumpfgebiet befand sich beispielsweise an dem Ort der heutigen Michaelsburg, errichtet unter Paul I. 

Die Stadt wurde jedoch mit Hilfe europäischer Ingenieure für Städtebau errichtet. Sie befahlen, Erde nach St. Petersburg zu liefern, um den Boden unter den schweren Gebäuden zu befestigen und damit die Statik zu gewährleisten. 

Laut Bodenwissenschaftlerin Jelena Sukatschowa, wurden Wasserquellen und kleinere Flüsse mit Sand und Schutt gefüllt sowie Sümpfe entwässert. Diese Arbeiten wurden schrittweise bis in die 1780er Jahre durchgeführt, als die Ufer des Newa-Flusses schließlich mit Granit verkleidet wurden.

Mythos 2: Ein Adler flog in die Lüfte, als Peter der Große den Grundstein für die Peter-und-Paul-Festung legte.

Die Peter-und-Paul-Festung wurde am 16. Mai 1703 gegründet. Eine alte Legende besagt, dass Peter selbst den Grundstein für die Festung legte, als ein Adler über seinen Kopf flog.

Dies ist jedoch nur ein Mythos. Nach den Reisenotizen des Zaren war er an diesem Tag viel weiter nördlich unterwegs, in Schlötburg, an der Stelle der ehemaligen Nyenskans-Festung. Alle seine Dekrete und Briefe, die er im Mai-Juni 1703 unterzeichnete, sind mit diesem Ortsnamen versehen. Ferner bewohnten keine Adler jemals die Region um St. Petersburg.

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Mythos 3: Die Stadt wurde auf Knochen gebaut.

Angeblich befahl Peter I. Hunderttausenden von Bauern aus russischen Regionen, sich auf der Baustelle der Stadt einzufinden. Sie wurden schlecht ernährt, litten unter den schlechten Lebensbedingungen durch Feuchtigkeit und Frost und wurden genau in den Sümpfen begraben. 

Es stimmt zwar, dass die Bauarbeiten anfangs von Bauern ausgeführt wurden sind. Es ist ihnen jedoch nicht einfach befohlen wurden, nach Petersburg zu kommen. Sondern sie wurden beauftragt. Ab 1704 befanden sich unter den 40.000 Arbeitern in St. Petersburg hauptsächlich stattliche Leibeigene oder Leibeigene aus dem Besitz der Feudalherren.

Die Bauern arbeiteten in Schichten: Nach drei Monaten durften sie nach Hause gehen. Viele von ihnen blieben jedoch auch für die nächsten drei Monate. Für ihre Arbeit bekamen sie einen Rubel pro Monat, was zu jener Zeit dem Standardlohn eines Bauarbeiters entsprach. Für Bauern aus entfernten Regionen war dies eine sehr profitable Aufgabe.

Nach 1717 gab es keine bäuerlichen Arbeiter mehr. Vielmehr wurde eine jährliche Steuer eingeführt. Mit den Steuereinnahmen bezahlte die Regierung die Arbeiter, die die Bauarbeiten vollendeten. 

Was die Sterblichkeitsrate der Arbeitnehmer betrifft, lag sie bei sieben bis acht Prozent und war damit zu dieser Zeit nicht unüblich. In den 1950er Jahren führten sowjetische Historiker Ausgrabungen auf den wichtigsten Baustellen des frühen 18. Jahrhunderts durch. Sie fanden keine Hinweise auf Massengräbern. Ganz im Gegenteil: Sie stoßen immer wieder auf mit Tierknochen und Essensresten gefüllte Gruben. Dies war der Beweis, dass die Bauern und die Arbeiter gut ernährt waren. 

Mythos 4: Die Wassiljewski-Insel hätte Kanäle bekommen sollen, aber Menschikow stahl das hierfür gedachte Geld.

Jacob von Staehlin (1709-1785), Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, der unter mehreren russischen Monarchen lebte, behauptet in seinem Buch „Wahrhafte Anekdoten von Peter dem Großen“ Folgendes: Der Zar habe befohlen, dass die Wassiljewski-Insel in St. Petersburg ins „kleine Amsterdam“mit Kanälen statt Straßen zu verwandeln sei. Er beauftragte seinen engen Vertrauten Fürst Alexander Menschikow mit dieser Aufgabe. Aber Menschikow, der ein berüchtigter Betrüger war, stahl das meiste Geld, so dass die Kanäle zu eng wurden, um von Booten befahren zu werden. Schließlich wurden sie verfüllt.

In Wirklichkeit gab es auf der Wassiljewski-Insel auch 1723 keine Kanäle. Erst zwischen 1727 und 1730, schon nach Peters Tod, wurden vier Kanäle gebaut. Diese ließ Katharina die Große 1767 aber wieder verfüllen. 

Mythos 5: „Petersburg soll leer sein!“ 

Peter der Große liebte seine erste Frau, Jewdokija Lopuchina, nicht. Sie teilte Peters Leidenschaft für alles Europäische nicht. Sie war hoffnungslos altmodisch eingestellt. 

Jewdokija soll an einer Verschwörung gegen den Zaren beteiligt gewesen sein und wurde hierfür ins Kloster verbannt. Noch vor der Nonnenweihe soll Jewdokija über die neue Hauptstadt gelästert haben: „Petersburg soll leer sein!“.

In Wirklichkeit konnte sie jedoch kaum etwas über St. Petersburg gewusst haben, als sie 1698 ins Kloster geschickt wurde. Also fünf Jahre bevor die Stadt Nyen erobert worden war. Und der Ort, von dem sie sprach, wurde nur als Baugrund für die zukünftige Stadt definiert. Daher hätte Jewdokija nicht vorhersagen können, dass dieser sumpfige Ort vielen Überschwemmungen ausgesetzt sein wird (wie ihre „Vorhersage“ normalerweise interpretiert wurde).

Zarewitsch Alexej, der unglückliche Sohn von Peter und Jewdokija, wiederholte diese Worte als ein schon weit verbreitetes Gerücht, als er im Jahr 1718 verhört wurde.

Später im 19. Jahrhundert erzählte der russische Historiker Sergej Solowjow diese Geschichte noch einmal und von da an galt sie als eine pseudogeschichtlichen Tatsache.

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