Als die Bewegung „Narodnaja Wolja” (zu Deutsch: „Volkswille”) die Ermordung des Zaren Alexander II. plante, beabsichtigte sie, damit einen Volksaufstand auszulösen, der das Land in seinen Grundfesten erschüttern sollte. Schließlich galt Alexander II. als unbarmherzig und unbeliebt.
Doch das Gegenteil war der Fall. Selbst die Liberalen trauerten um den Zaren. Die Attentäter wurden nicht als Befreier gefeiert, sondern mit Verachtung gestraft. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der Zar in den Augen der meisten Russen gar nicht sündhaft sein oder Fehler begehen könne, denn er war doch von Gott geschickt.
Auch über 100 Jahre nach dem Ende der Kaiserzeit in Russland ist im kollektiven russischen Gedächtnis noch immer die Vorstellung verankert, dass ein Herrscher nicht durch ein Gesetz oder den Volkswillen seine Macht erlangt, sondern von Gott. Schuld an Missständen war daher in den Augen des Volkes selten der Zar selbst, sondern andere, von den Bojaren zu den Ministern.
Welche Beziehung bestand zwischen den Zaren und Gott tatsächlich?
Herrscher von Gottes Gnaden
Jede Zivilisation in der Geschichte der Menschheit hat ihre eigene Sicht auf die Beziehung zwischen Gott/Göttern und Herrschern. Im alten Ägypten galt der Pharao als irdische Verkörperung des Gottes Horus. Im alten China, das keine monotheistische Religion hatte, wurde der Kaiser als „Sohn des Himmels“ proklamiert, und seine Autorität wurde demütig als Schicksal anerkannt. Im Römischen Reich brachte der Kaiser den Göttern Opfer dar und bat um gute Ernte, Wohlstand und Wohlwollen. Er war gewissermaßen der oberste Priester des Volkes.
Der christliche Rahmen war anders. In der Bibel steht in Römer 13,1: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet.“ In Sprüche 8,15 heißt es: „Durch mich regieren die Könige und setzen die Ratsherren das Recht.“
Die Theologin Elena Khaupa schreibt, dass Autorität des Herrschenden für das Volk bedeutete, dass er sie auf das ewige Leben vorzubereiten habe: „Der Kaiser war für das Heil seines Volkes verantwortlich.“ Diese byzantinische Vorstellung verbreitete sich auch in der alten Rus.
Zar und Papst
Inwiefern unterschied sich die geistige Autorität eines byzantinischen Herrschers - wie auch des russischen Zaren - von der des römischen Papstes? Die katholische Kirche sieht den Papst als Nachfolger des Apostels Petrus - des ersten Apostels Christi. „Weide meine Lämmer/Schafe“, sagt Jesus zu Petrus (Johannes 21, 15-17) gleich drei Mal.
Die russisch-orthodoxe Kirche sieht dagegen keine absolute Autorität beim Papst. Er nehme nur eine Sonderstellung ein, herrsche jedoch nicht über die Kirche Jesu Christi. Das könne nur Jesus Christus selbst.
Der weltliche Herrscher übernimmt die Rolle des Abgesandten Gottes - ein wichtiger Unterschied. In dieser Rolle ist der Kaiser (oder Zar) sowohl von absoluter Macht durchdrungen als auch von absoluter Verantwortung gegenüber Gott. Was bedeutet das?
Der Zar muss den Gesetzen Gottes folgen. Irdische Gesetze kann er frei bestimmen. Ein Teil dieser Verantwortung gegenüber Gott bedeutete, das Land aus der Krise heraus zu lenken, wenn der Glaube in Gefahr war, den Vorsitz in religiösen Angelegenheiten zu führen und Versammlungen zu organisieren sowie als Richter in Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen den kirchlichen Hierarchen zu fungieren.
Eine lebenslängliche Verpflichtung
Mit der absoluten Macht ging jedoch auch die absolute Verantwortung einher. Der Herrscher wusste genau, dass er sein Leben dieser Verpflichtung unterordnen musste. In der Krönungszeremonie kam dies zum Ausdruck.
Als „Krönung“ wird es im westlichen Sprachgebrauch übersetzt. Auf Russisch heißt es „Salbung zum Zaren“. Der Zar war zudem in der Vorstellung der Russen durch die Salbung mit seiner Stellung gewissermaßen verheiratet. Der Bund ist unauflöslich. Daher konnten viele Russen nicht glauben, dass Nikolaus II. abgedankt hat. Ein solcher Schritt galt als unvorstellbar.
Der Zar stand über der Kirche und musste sich nicht rechtfertigen, in deren Aufgabenbereiche einzugreifen oder über deren Organisation und Eigentum zu bestimmen.
Auf diese Weise schaffte Peter der Große das Patriarchat ab und richtete 1721 die Heilige Synode ein. Niemand hätte ihn aufhalten können. Konstantinopel gab seinen Segen.
Der russische Zar war praktisch das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, und sein Wort übertraf das des Patriarchen. Der Papst hatte dagegen immer eine andere Stellung. Kein Herrscher wäre jemals in der Lage gewesen - und ist es auch heutzutage noch nicht - ihn in Angelegenheiten der römisch-katholischen Kirche zu überstimmen.