Architektursünden in der Sowjetunion: Warum wurden historische Bauten oft aufgestockt und umgebaut?

Geschichte
OLGA MAMAJEWA
Viele historische Bauten des 18./19. Jahrhunderts erfuhren Renovierungsarbeiten, die ihren ursprünglichen Charakter zerstört haben. Aus Perlen der Architektur wurde Einheitsbrei.

Für einen architekturliebenden Touristen kann ein Spaziergang durch das historische Moskau ein Schockerlebnis sein. Sie können soeben noch die ansprechende exquisite Fassade eines alten barocken, klassizistischen oder im Empire-Stil errichteten Gebäudes bewundern, dann schauen Sie nach oben und sehen einen charakterlosen Aufbau, eine Monstrosität, mit der das ursprüngliche Gebäude um ein paar Stockwerke erweitert wurde. Und leider sehen Sie richtig! 

Ein bedeutender Teil der vorrevolutionären Bauten in Moskau wurde während der Kriege zerstört oder im Rahmen von Stalins Masterplan von 1935 für die Stadterneuerung abgerissen. Doch ein größerer Teil der historischen Bauwerke ging durch zahlreiche Umbauprojekte verloren. Viele der aus dem 18./19. Jahrhundert stammenden Gebäude haben ihr Erscheinungsbild radikal verändert. Sie spiegeln die Veränderungen der russischen Geschichte in bizarrer Weise wider.   

Neue Häuser für neue Menschen 

In den meisten Fällen war die Sanierung alter Villen des Adels oder der Kaufleute und auch von Mehrfamilienhäusern notwendig, um sie an moderne Standards anzupassen. Die erste Renovierungswelle fand in den 1920-1930er Jahren statt, als die neuen Sowjetbehörden die Wohnungsnot bekämpfen mussten. Drei- und vierstöckige Gebäude, in denen Übernachtungsräume oder Büros untergebracht werden sollten, wurden weiter aufgestockt. Ein- und zweigeschossige Villen erhielten grundsätzlich immer einen Dachaufbau, in dem dann Gemeinschaftswohnungen entstanden. Die ehemals großzügigen Zimmer mit ihren Stuckarbeiten und Zierleisten wurden durch Trennwände grob unterteilt. Die Architekten, die diese Maßnahmen umsetzen sollten, scherten sich wenig darum, den ursprünglichen Stil der Bauten zu bewahren. Eher das Gegenteil war der Fall. 

Ein Beispiel für diese Art der Stadtplanung ist ein malerisches Gebäude am Smolenski Boulevard 10 (Architekt Peter Lawin). Das dreistöckige Bauwerk im klassischen Stil mit geschnitzten Kranzleisten und einer dekorativen Steinfassade wurde 1892 als Mehrfamilienhaus erbaut. In den 1930er Jahren, als es akut an Wohnraum mangelte, wurde ein zweistöckiger konstruktivistischer Aufbau errichtet und im Inneren entstanden Gemeinschaftswohnungen. 

Das Ergebnis ist ein Hybrid, der für die Stadtentwicklung Moskaus um die Jahrhundertwende so charakteristisch ist und auf einem grotesken Kontrast zwischen klassischer und avantgardistischer Architektur basiert. 

Eine ähnliche Modernisierung erfuhr die Villa Golizyn in Wolchonka, die heute zum Puschkin-Museum der Schönen Künste gehört. Das zweistöckige Herrenhaus - ein schönes Beispiel für die klassische Architektur Moskaus - wurde Ende der 1920er Jahre wiederaufgebaut. Die strenge Fassade wurde dabei deutlich verändert. Das Gebäude verlor seinen Giebel, der den zentralen Portikus schmückte. Außerdem wurden zwei Geschosse hinzugefügt, in denen sich lange Zeit das Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften befand. Diese Erweiterung passte jedoch im Gegensatz zum Mietshaus am Smolenski Boulevard stilistisch zum ursprünglichen Gebäude.  

Architektursünden der jüngsten Zeit 

Diese barbarische Verfahrensweise war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Teil der Moskauer Stadtplanung. Das Herrenhaus der Kaufmannsfamilie Lukutin (Mäzene, die unter anderem die berühmten Fedoskino-Lackschatullen förderten) in Wischnjakowski Pereulok 23, wurde im 18. Jahrhundert erbaut. 1910 entschieden die Eigentümer, dass dem dreistöckigen Bauwerk ein weiteres Stockwerk hinzugefügt werden sollte. Die Idee war, die Villa in ein Mehrfamilienhaus umzuwandeln. 

Der endgültige Verlust des historischen Aussehens erfolgte in den 1980er Jahren, als noch zwei weitere Stockwerke hinzugefügt wurden. Das Herrenhaus im klassischen Stil wurde zu einem gesichtslosen Exemplar der sowjetischen Einheits-Architektur.

Eines der letzten Opfer sowjetischer Architekten war das Mietshaus Sawarsina in Ljalin Pereulok 14. Über 80 Jahre nach seinem Bau im Jahr 1907 wurden dem Jugendstilhaus zwei Stockwerke mit Wohnungen zugefügt. 

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR war die architektonische Tragödie der russischen Hauptstadt noch nicht vorbei. Die zweite Welle der Renovierung vorrevolutionärer Gebäude fand in der jüngeren Geschichte statt - in den 1990er und frühen 2000er Jahren, als private Investoren historische Villen für wenig Geld kauften und sie häufig aufstockten, um mehr Gewerbefläche zu schaffen. Damals herrschte daran Mangel in Moskau.  

Ein weiteres trauriges Symbol der neuen Ära in der Stadtentwicklung war der Wiederaufbau eines zweistöckigen Herrenhauses in Malaja Dmitrowka 20, das einst dem Dichter Alexei Pleschtschejew gehörte. 1999 übergab die Stadtregierung es einem privaten Investor. Das Gebäude wurde bis zur Fassade zurückgebaut und in ein High-Tech-Geschäftszentrum integriert.

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