Von Lenin bis Putin: Wie Politiker russische Wohnarchitektur beeinflusst haben

Vsevolod Tarasevich/MAMM/MDF/russiainphoto.ru
Ein Badezimmer für acht Familien oder ein großzügiges Loft in einem futuristischen Wolkenkratzer: Während der letzten hundert Jahre hat der Wohnungsbau im heutigen Russland drastische Änderungen erlebt.

Wladimir Lenin, 1917 - 1920er: Neue Wohnformen für eine neue Gesellschaft 

Kurz nach der kommunistischen Revolution tauchten radikale neue Wohnprojekte auf, die den bisherigen russischen Lebensstil überholten. Um einen neuen Typ von gut organisierten und fleißigen Bürgern hervorzubringen, die in der Lage sind, den Sozialismus und dann den Kommunismus aufzubauen, griff die Regierung massiv ins Leben der Bürger ein. Das machte auch vor dem Wohnen nicht Halt. 

Die Sowjets verstaatlichten Privateigentum und begannen mit der sogenannten „Wohnungsverdichtung“, bei der mehrere Arbeiterfamilien in großen zentralen Wohnungen untergebracht wurden, in denen früher nur einige wenige Adelige lebten. Die Kommunalka war geboren, ein Symbol der Sowjetunion. 

Narkomfin-Kommunenhaus in Moskau

Vom neugegründeten Staat inspirierte Künstler kreierten auch revolutionäre Designs, die eine Ära der Gleichheit, Funktionalität und Modernität widerspiegeln sollten. Ab den 1920er Jahren entwarfen Architekten Gebäude im konstruktivistischen Stil mit betonten industriellen und proletarischen Merkmalen. Ein Beispiel dafür ist das Narkomfin-Gebäude am Nowinski Boulevard 25 in Moskau. 

In diesem kommunalen Wohnbauprojekt gab es zwar für Familien eigene Räume, aber diese hatten meist keine Küche oder Badezimmer. Im ersten Stock und auf dem Dach gab es dagegen Räumlichkeiten, die von alle genutzt werden konnten. An den Wochenenden traf man sich im großen Speisesaal. In der Woche sollten die Bewohner ohnehin in den Werkskantinen essen und ihre Privaträume vornehmlich zum Schlafen nutzen. 

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Joseph Stalin, 1933 - 1955: Architektonischer Imperialismus 

Während der Herrschaft von Joseph Stalin gab es immer mehr solcher Massenwohnbauprojekte. Es entstanden neue Bezirke, ja ganze Städte. 

Das Wohnhaus am Kutusow-Prospekt 35 in Moskau wurde von 1938 bis 1941 errichet.

Stalin lehnte jedoch die avantgardistischen Experimente konstruktivistischer Baumeister ab und begründete den neuen eklektischen imperialen Stil der sowjetischen Architektur. Die sogenannten „Stalinkas“, meist monumentale Bauten mit geräumigen Wohnungen, in denen vor allem lokale Eliten untergebracht waren, waren ein neues Symbol für die zunehmende Industrialisierung und Expansion. 

Neoklassizistische Säulen und Balkone sollten wohl ein Anreiz für den einfachen Arbeiter sein, sich noch mehr anzustrengen, um auch einmal dort leben zu können. 

Die meisten Proletarier lebten in Gemeinschaftswohnungen oder in standardisierten zweistöckigen Holzbauten. Doch den architektonischen Luxus konnte jedermann an öffentlichen Orten wie Kulturzentren oder in der U-Bahn erleben. 

Nikita Chruschtschow, 1953 - 1964: Ökonomische Architektur 

Chruschtschow setzte sich für eine wirtschaftliche, simple und funktionale Architektur ein. Bald wurden die großbürgerlichen „Stalinkas“ durch kompakte „Chruschtschowkas“ ersetzt, die das Stadtbild nun prägten. Beton- oder Backsteingebäude mit innen winzigen Küchen, niedrigen Decken und kleinen Fenstern trugen zur Lösung der Wohnungsnot in den überbevölkerten Industriestädten bei. 

Die Regierung behauptete, anstelle von dekorativen Exzessen bestehe die wahre Aufgabe und Kunst der Architektur darin, dass alle Menschen gleiche Chancen und Bedingungen hätten. Der Bau einer fünfstöckigen Paneelstruktur ohne Aufzüge war im Vergleich zu „Stalinkas“ äußerst zeitsparend und kostengünstig. Daher hat die Sowjetunion in dieser produktiven Bauzeit wahre Rekorde im Wohnungsbau erzielt. Millionen sowjetischer Familien bekamen ihre privaten Räume. 

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Leonid Breschnew, 1964 - 1982: Stabilität und Stagnation  

Engels-Straße in Archangelsk

Während der „Ära der Stagnation“ dominierten Hochhäuser, stabil und langweilig. Die Wirtschaftslage verbesserte sich in den vergleichsweise friedlichen 1960er und 1970er Jahren leicht. Es entstanden neue und größere Bauten, die „Breschnewkas“. 

1980er und 1990er, Jahre des Umbruchs und der Experimente 

Die wirtschaftlichen Nöte während der Regierungszeit von Michail Gorbatschow (1985 - 1991) und dann von Boris Jelzin (1991 - 2000) trugen Ende des Jahrhunderts nicht zu wesentlichen Veränderungen im staatlichen Wohnungsbau bei. 

Als Folge des Niedergangs der sowjetischen Ideologie und des plötzlichen Zugangs zur westlichen Kultur prägten jedoch neue Bauherren den architektonischen Stil. Die plötzliche politische Freiheit ging auch einher mit neuer ästhetischer Freiheit. Neubauten der späten 1990er Jahre waren daher sehr extravagant und individuell. Sie versuchten nicht einmal, sich ins Stadtbild einzufügen. 

das Haus „Patriarch“

In dem Bestreben, die standardisierte Architektur der Vergangenheit zu überwinden, entstanden Gebäude in „neorussischem“, „europäischem“ oder Hightech-Stil oder gleich in einem wilden Stil-Mix. 

Das „Ei-Haus“

Zu den ungewöhnlichsten Beispielen für Mehrfamilienhäuser zählen in Moskau das Haus Patriarch und ein eiförmiges Haus, die beide Ende der 90er Jahre entworfen und 2002 fertiggestellt wurden.

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Wladimir Putin, Modernes Russland: das Experiment geht weiter 

Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der UdSSR erholte sich die russische Wirtschaft allmählich, die Gehälter stiegen im Durchschnitt und damit auch die Nachfrage nach komfortablen Neubauwohnungen. Die Vororte der Großstädte wachsen und wachsen. Es entstehen neue Stadteile mit identischen Hochbauten. 

Stadtteil Parnas im Norden von St. Petersburg

Gestaltung und Anstrich sind zeitgenössisch, doch erinnern die neuen Wohnblöcke einerseits an futuristische Projekte des 20. Jahrhunderts, andererseits aber auch an die gleichförmigen sowjetischen Wohnblöcke. So schließt sich der Kreis in der russischen Architektur.  

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