Im Dienste der Sprache: Wer war der „Mann in der Mitte“?

Joseph Biden, Wiktor Prokofjew und Andrei Gromyko im Jahr 1988

Joseph Biden, Wiktor Prokofjew und Andrei Gromyko im Jahr 1988

Eduard Pessow/TASS
Der professionelle Übersetzer Wiktor Prokofjew dolmetschte für Staatsoberhäupter und Oligarchen.

Dieses Foto ging viral, als Joe Biden von den Medien als neuer gewählter Präsident der Vereinigten Staaten verkündet wurde. Es zeigt Biden, wie er 1988 dem damaligen sowjetischen Staatsoberhaupt Andrei Gromyko zulächelte und ihm die Hand schüttelte.

Zwischen den beiden Politikern steht noch ein weiterer Mann. Er wirkt gelassen, konzentriert und aufmerksam. In den folgenden Jahrzehnten würde Wiktor Prokofjew, der Dolmetscher der Wahl für viele hochrangige sowjetische Politiker, auch für Bill Clinton, George H. W. Bush oder den russischen Oligarchen Roman Abramowitsch und viele andere übersetzen. 

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Der Weg ins Zentrum der Macht 

Für Prokofjew begann der Weg, der ihn mitten aufs diplomatische Parkett und in die Geopolitik in Zeiten des Kalten Krieges führte, an der juristischen Fakultät des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen, wo er internationales Recht sowie die Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch studierte. Als junger Absolvent im Jahr 1977 dachte Prokofjew über eine akademische Karriere nach, entschied sich aber schließlich für eine andere Option, die sich als schicksalhafte Wahl erwies.

„Ich habe vom UN-Sprachkurs erfahren und sah darin eine gute Möglichkeit, meine vier Sprachen anwenden zu können und noch mehr über internationales Recht, Finanzen und Wirtschaft zu lernen“, erklärte Prokofjew „Russia Beyond“ in einem Exklusivgespräch. 

Da der UN-Sprachkurs von der Sowjetregierung und den Vereinten Nationen gemeinsam finanziert wurde, war der junge Prokofjew auf dem Radar des Außenministeriums der UdSSR.

Fünf Jahre später, nach verschiedenen Posten im UN-Büro in Genf als Dolmetscher und Anwalt, trugen Prokofjews alte Kontakte Früchte. 1984 trat Prokofjew als Dolmetscher in die Dienste des sowjetischen Außenministeriums. 

Treffen mit Joe Biden

Nach und nach kletterte er die Karriereleiter im Ministerium empor. 1985 nutzte Prokofjew seine Erfahrung als Dolmetscher der russischen Regierung bei den laufenden Abrüstungsgesprächen zwischen den USA und der UdSSR in Genf. Er übersetzte für Gorbatschow und Ronald Reagan, die auf ihrem ersten gemeinsamen Gipfel versuchten, das gegenseitige Wettrüsten der Supermächte zu beenden.  

„Sie werden überrascht sein, aber es gab sehr wenig Konkurrenz um diese Position. Nur wenige wetteiferten um diesen Top-Job. Es war mehr eine natürliche Auslese“, erzählt Prokofjew.

Der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, Andrei Gromyko (l), und der US-Senator, Joseph Biden (R), führen Verhandlungen über die Ratifizierung des Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrags. Wiktor Prokofjew begleitet Andrei Gromyko.

Als die ältere Generation der sowjetischen Dolmetscher, wie zum Beispiel Wiktor Suchodrew, den jüngeren Fachkräften das Feld überließ, war Prokofjews Weg zu Verhandlungen auf höchster Ebene, die über das Schicksal der Menschheit entschieden, frei. 

1988 wurde er ausgewählt, um für eine Gruppe von US-Senatoren zu übersetzen, die in die UdSSR gereist waren, um mit Andrei Gromyko, dem ehemaligen Außenminister und nunmehrigen Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets und Staatsoberhaupt der Sowjetunion (nicht zu verwechseln mit der mächtigeren Position des Generalsekretärs der KPdSU, die Michail Gorbatschow innehatte) die Aussichten einer Ratifizierung des INF-Vertrages (Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag) zu diskutieren, den Reagan und Gorbatschow im Dezember des Vorjahres unterzeichnet hatten.

„Ich wusste, wer er war. Im Vorfeld des Treffens mit Senator Biden wurde ich stundenlang von Diplomaten des Ministeriums vorbereitet. Einer der Gründe, warum ich für Gromyko übersetzen sollte, war, dass sie wussten, dass sie die Ratifizierung des INF-Vertrags erörtern würden. Ich war die erste Wahl, weil es nur wenige Mitarbeiter in der Sprachenabteilung gab, die überhaupt jemals mit diesen militärischen Begriffen und Konzepten in Berührung gekommen waren“, sagt Prokofjew. Er habe zur Vorbereitung auf diesen Job auch viel über Mathematik und Physik in Bezug auf die Waffen und Raketen, die Gegenstand des INF-Vertrages waren, lernen müssen.

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Sprache als „Kunde“ 

Auch Prokofjew hat die Kandidatur Joe Bidens und die US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 in den Nachrichten verfolgt. Doch die kurze Bekanntschaft mit dem zukünftigen Hausherrn im Oval Office lässt ihn unbeeindruckt. 

„Er war einer der Hunderten von Menschen, für die ich in den letzten 40 bis 45 Jahren gearbeitet habe“, erklärt Prokofjew, der in seiner beruflichen Laufbahn viele bemerkenswerte Persönlichkeiten wie Richard Nixon, Ronald Reagan, Bill Clinton und George H. W. Bush, Henry Kissinger, Al Gore, Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Frank Carlucci, Margaret Thatcher und Rajiv Gandhi sowie viele weitere hochkarätige Politiker getroffen hat.

Präsident Boris Jelzin, Wiktor Prokofjew und der US-Handelsminister Ronald Brown im Jahr 1994

Prokofjew gab seine Stelle im Außenministerium 1994 auf. In dieser Zeit zog sich das postsowjetische Russland weitgehend von der internationalen Bühne und der Machtpolitik zurück, um sich um dringlichere wirtschaftliche Angelegenheiten im eigenen Land zu kümmern. Als der Kapitalismus in das neue unabhängige Russland kam, gewann der ehemalige Diplomat neue Mandanten: internationale Top-Anwaltskanzleien, die für die neuen reichen russischen Oligarchen tätig waren und geschäftliche Auseinandersetzungen vor Gericht ausfochten.  

Präsident Bill Clinton mit dem russischen Premierminister Wiktor Tschernomyrdin in Washington

Im Jahr 2003 zog Prokofjew nach London, wo er seine Dienste privaten und öffentlichen Klienten anbot, die in Rechtsstreitigkeiten vor britischen Gerichten verwickelt waren. Im berühmten Fall Beresowski gegen Abramowitsch übersetzte Prokofjew für Lord Sumption, den Anwalt Abramowitschs, der später Richter am Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs wurde. 

Wiktor Prokofjew, Michail Gorbatschow und der britische Premierminister John Major

Unabhängig davon, für wen er übersetzt, sieht sich Prokofjew vor allem der Sprache verpflichtet. „Ich arbeite für die Sprache. Es ist immer ein Wetteifern zwischen mir und der Sprache. Ich höre ein Wort, einen Satz, einen Witz - etwas, das ich übersetzen muss - und ich habe nur einen Sekundenbruchteil Zeit, um zu liefern. Es ist eine wunderbare Herausforderung und immer ein Schuss Adrenalin.“

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