2020 lebten in Russland über 350.000 Menschen, die noch einen sowjetischen Pass hatten. Meist waren es Rentner oder Obdachlose, die ihre Pässe nicht verlängern wollten oder konnten. Formal sind diese Pässe noch aktiv - kein Gesetz in der Russischen Föderation hat sie verboten. Sowjetische Pässe waren nicht nur Dokumente, sondern Symbole der sowjetischen Staatsbürgerschaft.
Ein Pass aus der Zeit des Russischen Reiches
ArchivfotoDie ersten Pässe erschienen im 16.-17. Jahrhundert in Russland als Dokumente für ausländische Gesandte und Kaufleute. Peter der Große führte interne Pässe ein, um die enorme interne Migration zu kontrollieren, die durch seine Reformen ausgelöst wurde.
Der Staat wollte wissen, wo sich seine Steuersubjekte befanden, deshalb brauchten Bauern, Kaufleute und Stadtbewohner Pässe, um durch Russland ziehen zu dürfen. Die Bauern, die ihren Wohnort verlassen hatten, um in anderen Teilen des Landes zu arbeiten, hatten Pässe, in denen ihr Aussehen beschrieben wurde. Adlige konnten ohne Reisepass reisen, mussten jedoch einen Podoroschnaja erwerben - ein spezielles Dokument für die Nutzung eines staatlichen Pferdewagens auf Reisen. Diese Podoroschnajas halfen der Regierung auch dabei, die Bewegungen ihrer Untertanen zu kontrollieren.
Ein Podoroschnaja, ein Dokument für Reisen
ArchivfotoBis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten alle Russen eine Aufenthaltserlaubnis in den örtlichen Polizeirevieren. Sie durften ihren Wohnort nicht länger als jeweils sechs Monate verlassen.
Mit der Revolution von 1917 wurde das alte Passsystem verboten - die vom Russischen Reich ausgestellten Dokumente wurden bis 1923 für null und nichtig erklärt. Der Staat konnte jedoch ohne ein System von Aufzeichnungen über seine Bürger nicht funktionieren.
Die 1920er Jahre waren das Zeitalter der Industrialisierung und Kollektivierung. Eine große Anzahl von Menschen wurde umgesiedelt und verarmte. Es gab Nahrungsmittelknappheit und schlechte Wohnbedingungen, und die Menschen strömten in die großen Städte, um dort Arbeit und bessere Lebensbedingungen zu finden. Unter diesen Bedingungen mussten die Bolschewiki das Passsystem wieder einführen. Der Staat wollte so die „guten“ Bürger von den „schlechten“ Bürgern trennen. Letztere waren ehemalige zaristische Beamte, Polizisten und Soldaten sowie der Adel.
Vielen Personen wurde der sowjetische Pass verwehrt, darunter Arbeitslose, ehemalige Kulaken (wohlhabende Bauern), Priester und Mitglieder des Klerus, alle ehemaligen zaristischen Beamten, Polizisten, Justizbeamten. Also mussten all diese Leute ihren Lebenslauf fälschen oder einen anderen Weg finden, um in den Städten leben zu können.
Auf dem Land hatten ehemalige Bauern, zu Sowjetzeiten Arbeiter von Kolchosen (Kollektivfarmen), erst in den 1970er und 1980er Jahren Pässe. 1949 diskutierte das Büro des Ministerrates die Vergabe von Pässen an alle über 16-Jährigen, doch das Projekt wurde nie realisiert. Für die Kolchos-Arbeiter (ehemalige Bauern) bedeutete das Fehlen eines Passes die Unmöglichkeit, ihren Wohnort zu verlassen und woanders Arbeit zu suchen. In den 1920er Jahren lebten ungefähr 80 Prozent der sowjetischen Bevölkerung auf dem Land (jedoch waren nicht alle Kolchos-Arbeiter). Bei der Migration in die Städte erhielten die ehemalige Landbevölkerung ihre Pässe und Aufenthaltsgenehmigungen, aber bis 1974 waren immer noch etwa 20 Prozent der Bevölkerung ohne Pass.
Der Pass von Leonid Breschnew
ArchivfotoDer Pass wurde offiziell am 27. Dezember 1932 eingeführt: „Alle Bürger der UdSSR im Alter von 16 Jahren, die dauerhaft in Städten leben, in Siedlungen wohnen, im Verkehr, auf staatlichen Farmen und auf Baustellen arbeiten, müssen Pässe haben“, besagte ein Erlass der Sowjetregierung. Der sowjetische Pass enthielt die Staatsangehörigkeit, einen Registrierungsstempel (Propiska), den Familienstand, den sozialen Status (Arbeiter, Kollektivbauer, einzelner Bauer, Angestellter, Student, Schriftsteller, Künstler, Bildhauer, Handwerker, Rentner, abhängig, ohne bestimmte Berufe - das waren die Kategorien) sowie den Ort der Arbeitsstelle oder der Hochschule.
Jelena Gagarina, die Tochter des Kosmonauten Juri Gagarin, bekommt ihren sowjetischen Pass
Alexander Konkow/TASSAuch den Auszug aus dem Strafregister enthielt der Pass. Es war für eine Person, die laut Pass von den sowjetischen Behörden als „kriminelles Element“ eingestuft worden war, unmöglich, eine seriöse Anstellung zu finden. Sowjetische Pässe waren also Dokumente, die ideal für die Unterdrückung ihrer Inhaber waren. Der Sowjetstaat wollte ebenso wie das Russische Reich die vollständige Kontrolle und Überwachung seiner Untertanen.
Anweisungen aus dem Jahr 1935 definierten die Hauptaufgaben der sowjetischen Miliz bei der Aufrechterhaltung des Passregimes in der UdSSR wie folgt: Verhinderung des Aufenthalts ohne Pass und ohne Aufenthaltserlaubnis (Propiska), Verhinderung von Beschäftigung oder Dienstleistung ohne Reisepass. Ab 1937 hatten Pässe Fotos - Kopien dieser Fotos wurden in sogenannten „Passtabellen“ hinterlegt, die die Ausgabe der Pässe kontrollierten.
Schließlich wurde am 28. August 1974 die Entscheidung getroffen, neue sowjetische Pässe auszustellen und ausnahmslos allen Sowjetbürgern, die 16 Jahre oder älter waren, Pässe zu geben - diesmal erhielten auch die sowjetischen Bauern einen. In den Jahren 1976 bis 1981 wurden alle alten Pässe ersetzt. Das neue Gesetz verbot auch das Anbringen von Markierungen oder Stempeln in Pässen, mit Ausnahme eines Vermerks darüber, ob der Inhaber strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.
Die letzten sowjetischen Pässe wurden bis 1997 verwendet, als der neue russische Pass eingeführt wurde. Es gab jedoch kein eindeutiges Gesetz, das die sowjetischen Pässe verboten hat. Sie sind daher formal noch immer gültig.
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