Warum es ein Abenteuer war, den Roman „Der Herr der Ringe“ in die UdSSR zu veröffentlichen

Peter Jackson/New Line Cinema,2003
Nachdem das Buch von der sowjetischen Zensur abgelehnt wurde, gingen unabhängige Übersetzer ein großes Risiko ein, um Tolkiens Belletristik dennoch in der Sowjetunion zu verbreiten.

Während des Kalten Krieges war die sowjetische Zensur misstrauisch gegenüber allem, was aus dem Westen kam. Der Roman „Herr der Ringe“, geschrieben von einem britischen Autor, war da keine Ausnahme. Um den Klassiker der High Fantasy mit den Lesern in der UdSSR zu teilen, versuchten sowjetische Übersetzer, ihn illegal zu verbreiten, die Geschichte unter einem anderen Titel zu veröffentlichen, sie in ein Theaterstück umzuwandeln und Tolkiens Buch sogar als eine ganz neue Science-Fiction-Geschichte umzuschreiben.

Eine Science-Fiction-Geschichte

1966 unternahm die sowjetische Übersetzerin Zinaida Bobyr einen verzweifelten Versuch, Tolkiens Belletristik an die Standards der sowjetischen Literaturzeitschrift „Technika Molodeschii“ (dt. „Jugendtechnik“) anzupassen.

Überzeugt davon, dass die sowjetische Zensur den Druck einer einfachen Übersetzung des Originals nicht zulassen würde, verwandelte Bobyr Tolkiens epische Fantasiegeschichte in einen Science-Fiction-Roman und versteckte das magische Thema hinter der Fassade rationaler wissenschaftlicher Entdeckungen.

Cover des Buches „Die Geschichte des Rings“ von Zinaida Bobyr, erschienen 1990

In Bobyrs Übersetzung wurde aus Tolkiens ursprünglicher Geschichte eine Geschichte innerhalb einer weiteren Science-Fiction-Erzählung über fünf Wissenschaftler, die einen uralten Ring entdeckten, der, wie sie feststellten, ein Gerät zum Speichern von Informationen war, die er preisgab, wenn er mit einem Funken stimuliert wurde.

Bobyrs Versuch war jedoch erfolglos, da die Zeitschrift es ablehnte, das Manuskript zu veröffentlichen.

Die ersten „Watchmen“

Das erste Buch der „Herr der Ringe“-Reihe mit dem Titel „Die Gefährten – Der Ring wandert“ wurde erstmals 1982 in der Sowjetunion gedruckt. Die sowjetischen Übersetzer Wladimir Murawjow und Andrej Kistjakowski - die zufällig auch Fans von J. R. R. Tolkien waren - überzeugten einen sowjetischen Verlag, 100.000 Exemplare des ersten Bandes zu drucken.

Doch die erste Übersetzung von Tolkiens Werk in der UdSSR hielt sich nicht strikt an die Vorlage des Autors. Die russische Übersetzung trug den Titel „Wächter“[Хранители auf Russisch] und stellte eine gekürzte Nacherzählung des Originalbuchs dar. 

Die erste Übersetzung von Tolkiens Werk in der Sowjetunion trug den Titel „Wächter“.

Einer der Gründe, warum die Übersetzer einen Kompromiss eingehen mussten, war der misstrauische Blick der sowjetischen Zensur, die das Buch als Abweichung vom Kanon des Sozialrealismus beurteilte, einer damals staatlich anerkannten Kunstrichtung in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern.

Das böse Imperium

Zur Enttäuschung vieler in der UdSSR folgten trotz des erstaunlichen Erfolgs des ersten Buches bei den sowjetischen Lesern nicht sofort der zweite und dritte Band des Romans.

Der Grund für den plötzlichen Stopp war in der Geopolitik des Kalten Krieges verwurzelt. Am 8. März 1983 - ein Jahr nach der ersten Veröffentlichung von Tolkiens Schriften in der Sowjetunion - hielt US-Präsident Ronald Reagan eine Rede, in der er die UdSSR als „böses Imperium“ bezeichnete.

Schnell wurden Parallelen zwischen Tolkiens fiktiver Welt Mordor und Reagans Bezug hergestellt.

„Ich hatte keine antisowjetischen Ideen in meinem Kopf. Sehen Sie, es gibt viele Anspielungen in Tolkiens Schrift. Es genügte zu sagen, dass seine Kräfte des Guten im Westen angesiedelt sind und die Kräfte des Bösen aus dem Osten kommen", sagte Alexandr Grusberg, ein weiterer sowjetischer Übersetzer von Tolkiens Werk.

Nichtsdestotrotz wurde die Übersetzung eingestellt.

Unzulässige Übersetzungen

Private Übersetzer gingen nun das Risiko ein, die beiden verbleibenden Bände zu übersetzen, als klar wurde, dass die Übersetzungsarbeit von Murawjow und Kistjakowski nicht fortgesetzt werden würde.

Sowjetischer Übersetzer Andrej Kistjakowski

„[Wenn man beim illegalen Übersetzen und Selbstveröffentlichen von Belletristik unter Umgehung der Zensur erwischt wurde], konnte man seinen Job verlieren oder die Möglichkeit, seine Ausbildung fortzusetzen. Die Möglichkeit, Geld zu verdienen, war generell eingeschränkt und administrative Repressionen konnten angewendet werden. Und ganz nebenbei bedeutete es, das Leben seiner Familie, Verwandten, Freunde und Kollegen zu ruinieren", wurde die sowjetische Philologin Jewgenia Smagina zitiert.

Trotz der damit verbundenen Risiken machten die Übersetzer weiter. Die neuen, im Selbstverlag erschienenen, Versionen stützten sich auf die Leistungen von Bobyr, Murawjow und Andrei Kistjakowski, den Pionieren auf dem Gebiet der Übersetzung von Tolkiens komplexer Sprache ins Russische.

Sowjetischer Übersetzer Wladimir Murawjow

Dank einer Welle von nichtzusammenhängenden Versuchen, die Bücher zu übersetzen, verwirrt die Figur des Frodo Beutlin das russischsprachige Publikum immer noch, da sein Name auf verschiedene Weise übersetzt wurde, wobei jeder versuchte, die ursprüngliche Bedeutung des Autors am besten zu vermitteln: Frodo Baggins, Frodo Torbins [eine Anspielung auf das russische Wort Torba - dt. ein Futtersack] und sogar Frodo Sumkins [eine Anspielung auf das russische Wort Sumka - dt. ein Sack].

Als Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika den Griff der sowjetischen Zensur in der UdSSR lockerte, nahm Wladimir Murawjow seine Arbeit wieder auf, um die beiden verbleibenden Bände der Reihe zu übersetzen: „Die zwei Türme“ und „Die Rückkehr des Königs“. Sein Kollege Andrei Kistjakowski erlebte diesen Moment nicht mehr, er starb 1987.

J.R.R. Tolkien (1892 - 1973)

1991 initiierte eine Gruppe von Tolkien-Enthusiasten ein für das Fernsehen adaptiertes Bühnenstück, das auf Murawjows und Kistjakowskis Übersetzung von „Die Gefährten des Rings“ basierte. Wahrscheinlich ist es das Beste, was Sie heute im Internet zu sehen bekommen.

>>> Große Literatur: Die zehn beliebtesten West-Autoren der Russen

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Weiterlesen

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!