Wie die Elektrizität der sowjetischen Propaganda diente

Moskauer Stadtmuseum
Die Bolschewiki setzten massiv auf die Elektrifizierung und hatten damit Erfolg. Das heruntergewirtschaftete Agrarland verwandelte sich im Handumdrehen in einen mächtigen Industriestaat.

Die Elektrifizierung Sowjetrusslands vollzog sich so schnell wie nirgendwo sonst auf der Welt. Nach der Machtergreifung erkannten die Bolschewiki schnell, dass die Existenz des Sowjetstaates gefährdet sein würde, wenn aus dem rückständigen Agrarland nicht innerhalb weniger Jahre eine Industrienation werden würde. Als Erstes galt es, das ganze Land mit Strom zu versorgen - angesichts der Größe Russlands und des weit verbreiteten Analphabetismus keine einfache Aufgabe. Also beschlossen die Bolschewiki, dafür Propaganda zu machen, und vollbrachten damit eine Meisterleistung.

Im Dezember 1921 billigte der 9. Allrussische Sowjetkongress den Plan der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Russlands, der eine Liste von Kraftwerken enthielt, die in den nächsten zehn bis 15 Jahren gebaut werden sollten. Die Umsetzung des Plans führte nicht nur zu einer groß angelegten industriellen Entwicklung, sondern schuf auch gewissermaßen eine neue Gottheit, die Künstler, Schriftsteller, Bildhauer, Architekten und Filmemacher anbeteten. Die Elektrifizierung hatte einen enormen Einfluss auf das sowjetische Leben und die Kunst. 

Iljitschs Lampe

Die Bolschewiki machten den Führer des Weltproletariats, Wladimir Iljitsch Lenin, zum Schöpfer und Symbol der Elektrifizierung. Das elektrische Licht, das nun jedes Haus erhellte, wurde als „Iljitschs Lampe“ bekannt, die den Massen (im wahrsten Sinne des Wortes) Erleuchtung und eine neue Lebensweise brachte. Der Ausdruck „Iljitschs Lampe“ kursierte übrigens in den Zeitungen, nachdem Lenin 1920 der Eröffnung des ersten ländlichen Elektrizitätswerks des Landes in Kaschin im Gebiet Twer beigewohnt hatte, das auf Initiative der örtlichen Bauern errichtet worden war. Später wurde der Mythos von Lenin als Lichtbringer in Filmen, Plakaten und Büchern aufgegriffen. Lenin sorgte nicht nur dafür, dass Licht ins Dunkel kam, er verkörperte quasi das Licht selbst. Lenin war Elektrizität.

Dies wurde auch in sowjetischen Kinderbüchern aufgegriffen. Eine neue Bildsprache und neue Techniken zur Darstellung der Elektrizität entstanden nicht nur für die Kinderliteratur, sondern auch für Filme, Plakate, Malerei, Skulpturen und Architektur. 

Ausbau eines Stromnetzes 

Für die sowjetischen Ideologen und Propagandisten war ein wichtiges Merkmal der Elektrifizierung ihre Verbindung zu einer zentralen Quelle. Das Versorgungsnetz, das sich bis in die entlegensten Winkel des Landes erstreckte, wurde zentral verwaltet, das heißt, es verband die Provinzen mit dem Zentrum. Diese Zentralisierung war ein Kernelement bei der Bildung des Landes der Sowjets. Erst dadurch wurde es möglich, die gesamte Volkswirtschaft zentral zu steuern. 

Die sichtbaren Ergebnisse der Zentralisierung stammen aus den 1930er Jahren, als die ersten Stromkontrollstationen entstanden. Das Stromnetz wurde zu einem Instrument, das es abgelegenen Dörfern ermöglichte, sich auf Augenhöhe mit den Großstädten zu fühlen.

1931 veröffentlichte der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Boris Kusnezow eine Abhandlung mit dem Titel „Das einheitliche Hochspannungsnetz der UdSSR“, in der er beschrieb, warum das Stromnetz so wichtig war und wie es den Aufgaben des Kommunismus und Sozialismus entsprach. 

Elektrifizierung des Alltagslebens

Obwohl viele Stadtwohnungen in den 1920er und 30er Jahren über elektrisches Licht und elektrische Geräte verfügten, war es noch zu früh, um von einer Massenelektrifizierung zu sprechen. Die steckte noch in den Kinderschuhen. Die Elektrifizierung des Alltagslebens wurde als Nebeneffekt der Hauptaufgabe der Elektrifizierung der Produktion propagiert. Gleichzeitig sollte jedes angeschlossene elektrische Gerät Kerosin einsparen, einen für die Wirtschaft wichtigen Brennstoff. Außerdem ging man davon aus, dass die Elektrifizierung den Überbleibseln der Vergangenheit einen vernichtenden Schlag versetzen würde: weg mit dem vorsintflutlichen Samowar und dem qualmenden Primus-Ofen, her mit der sauberen und komfortablen Zukunft. 

Eine der Aufgaben, die sich den sowjetischen Ingenieuren damals stellte, war die Frage, wie man die Elektrifizierung nutzen könnte, um das Leben der sowjetischen Frauen umzugestalten, sie aus der Hausfrauensklaverei zu befreien und ihnen mehr Zeit für soziale Arbeit zu geben. 1937 veröffentlichte eine der Zeitschriften einen langen Artikel aus der Ich-Perspektive einer Hausfrau, die sich darüber beklagt, wie wenig erfüllend ihr Leben sei: Kochen, dann Waschen, dann Putzen, dann wieder Kochen, und so weiter, jeden Tag in der Woche. Sie erzählt ihrem Mann davon, woraufhin er antwortet, dass er ihr gerne helfen würde. Und so taucht in der Küche ein Elektroherd auf, der das Leben der Frau enorm erleichtert.  Dies ist einer der ersten Ansätze für ein wissenschaftliches Management des täglichen Lebens in der UdSSR. 

Der Autor ist Kulturologe, Doktor der Wissenschaften und Postdoktorand am Poletajew-Institut für theoretische und historische Studien in den Geisteswissenschaften der Higher School of Economics.

Die große Ausstellung „Elektrifizierung. Der 100. Jahrestag des Plans der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Russlands (GOELPRO)“ läuft noch bis zum 24. Oktober im Museum von Moskau. „Russia Beyond“ dankt dem Museum für seine Unterstützung bei der Erstellung dieses Artikels.

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