100 Gramm zum Sieg: Wie Wodka in der Roten Armee im Kampf gegen die Nazis half

TASS
Während der intensivsten Phase des Zweiten Weltkrieges bekamen die sowjetischen Soldaten eine tägliche Ration Wodka, um der extremen psychischen und physischen Belastung standhalten zu können.

Die Ostfront des Zweiten Weltkriegs war die Hölle auf Erden: Artilleriebeschuss und flächendeckende, todbringende Luftangriffe, Angriffe durch Panzer und der Anblick sterbender Kameraden… Unter solchen Bedingungen körperlich nicht zusammenzubrechen und zugleich die Moral aufrecht zu erhalten war nicht leicht für die Soldaten. 

Die Führer der Kriegsparteien waren sich dieses Problems wohl bewusst und erfanden alle möglichen Mittel, um ihre Soldaten in guter Verfassung zu halten. So steigerten die deutschen Soldaten ihre Moral mit Schnaps. Die Wehrmacht setzte auch Pervitin-Tabletten ein. Diese auf Methamphetamin basierende Droge hatte eine starke psychostimulierende Wirkung auf das zentrale Nervensystem. Der Appetit lässt nach, das Schlafbedürfnis sinkt und die Droge sorgte für einen Energieschub. 

In der Roten Armee wurde das Problem auf ähnliche Weise gelöst, nämlich durch das berühmteste aller russischen Getränke: den Wodka.

100 Gramm vom Volkskommissar

Die Tradition, den Soldaten Alkohol „für mehr Mut“ zu geben, gab es in der russischen Armee schon seit der Antike. Bereits im 18. Jahrhundert hatten die Soldaten während der Kampfeinsätze Anspruch auf drei Gläser „Brotwein“ pro Woche.

Im Jahr 1908, nach der katastrophalen Niederlage Russlands im Krieg gegen Japan, wurde beschlossen, diese Praxis einzustellen, und dreißig Jahre später erließ das Volkskommissariat für Verteidigung sogar eine Verordnung „Über die Bekämpfung der Trunkenheit in der Roten Armee", nach der besonders eifrigen Trinkern die Entlassung aus der Armee und ein Gerichtsverfahren drohte.  

Während des Krieges gegen Finnland kehrte die Alkoholtradition in der Armee zurück. Im Januar 1940 schlug Verteidigungskommissar Kliment Woroschilow vor, den Soldaten und Kommandeuren täglich 100 Gramm (entsprechend 100 Millilitern) Wodka und 50 Gramm Salo (Schweinespeck) auszugeben, um sich im strengen Winter warm zu halten. Die Panzerbesatzungen erhielten die doppelte Portion Wodka, während die Piloten oft Cognac bekamen. 

Stressbewältigung

Nach dem Ende des Krieges gegen die Finnen wurde die Verteilung von Alkohol an die Truppen eingestellt, aber nach anderthalb Jahren wurde sie wieder aufgenommen. Am 22. August 1941 schrieb der Erlass des Staatlichen Verteidigungskomitees unter der Nummer 562 die tägliche Verteilung von 40-prozentigem Wodka an die Frontsoldaten (die direkten Feindkontakt hatten) in einer Menge von 100 Gramm (Milliliter) pro Person vor.

Ein Erlass des Volkskommissariats für Verteidigung drei Tage später regelte, dass die Piloten der Luftstreitkräfte der Roten Armee sowie das technische Personal, das die Feldflugplätze bediente, ebenso wie die Fronteinheiten mit Wodka versorgt werden sollten.

Diese Initiative der militärischen Führung des Landes hatte natürlich ganz andere Gründe als während des sowjetisch-finnischen Konflikts. Die regelmäßige Ausgabe von Alkohol sollte den Soldaten helfen, den enormen Stress zu bewältigen, dem sie in der herausfordernden Anfangsphase des Krieges gegen Nazideutschland ausgesetzt waren. Außerdem ermöglichte der hochprozentige Alkohol das rasche Wiederauffüllen der Energiereserven der Soldaten. 

Nutzen oder Schaden?

Das System für die Verteilung von Wodka an die Soldaten in den verschiedenen Einheiten und Verbänden konnte sehr unterschiedlich sein. In manchen Einheiten wurde der Alkohol vor einem Angriff ausgegeben, in anderen nach einem harten Gefecht, und in einigen Regimentern wurde das „Feuerwasser“ ohnehin nur sehr selten ausgeteilt. 

„Ich erinnere mich, dass Wodka nur vor dem Angriff ausgegeben wurde“, berichtete der Gefreite Alexander Grinko. „Jemand ging mit einer Flasche herum und wer wollte, konnte sich bedienen. Die jungen Männer waren die ersten, die tranken. Und dann liefen sie direkt in den Kugelhagel und starben. Diejenigen, die bereits mehrere Kämpfe überlebt hatten, hüteten sich vor dem Wodka.“  

„Ohne Alkohol war es unmöglich, ... die Kälte zu besiegen“, erzählte Oberleutnant Fjodor Iltschenko, der Feldmarschall Friedrich Paulus in Stalingrad gefangen nahm: „Die ‚hundert Gramm‘ wurden an der Front wichtiger als Granaten. Sie bewahrten die Soldaten, die viele Nächte im offenen Feld auf nacktem Boden verbrachten, vor Erfrierungen.“   

Doch nicht alle Soldaten brauchten regelmäßig eine Ration Alkohol. „In den ersten Jahren tauschte ich ihn gegen Zucker ein“, erinnerte sich der Maschinengewehrschütze Michail Larin. „Nach der Ausgabe der ‚100 Gramm‘ scharten sich die Soldaten wie Gänse um mich und ich tauschte meine Portion ein.“ Gardefeldwebel Georgi Weljaminow sagte: „Wir, die jungen Soldaten hatten wenig Interesse am Alkohol. Wir waren ungleich mehr an den Mahlzeiten interessiert.“   

Schlechte Angewohnheit

Die Regeln und Normen für die Verteilung von Wodka änderten sich ständig. Ab Mai 1942 wurde der Alkohol nur noch an Soldaten von Einheiten ausgegeben, die sich in Schlachten ausgezeichnet hatten. Ihre Quote wurde auf 200 Gramm angehoben. Die übrigen Frontsoldaten durften nur an den Feiertagen trinken.

Im November desselben Jahres wurde beschlossen, zu den traditionellen „100 Gramm“ zurückzukehren, die aber nur an Soldaten und Offiziere ausgegeben wurden, die direkt an militärischen Aktionen beteiligt waren. Die Reservisten und die Angehörigen von unterstützenden Diensten sollten nur 50 Gramm erhalten.

Nicht überall wurden die Soldaten mit Wodka versorgt. So wurde beispielsweise bei den sowjetischen Truppen, die im Kaukasus kämpften, dieses Genussmittel erfolgreich durch lokale Weine ersetzt.

Nach dem Tag des Sieges wurden die „100 Gramm“ in der Roten Armee gestrichen. Doch nicht allen Kriegsheimkehrern gelang es, sich das tägliche Trinken abzugewöhnen.  

Lew Kartaschew, ein Veteran der 83. Garde-Schützen-Division, erinnerte sich: „Schon nach dem Krieg in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) ging ich zum Mittagessen in die Offiziersmesse. Und die Offiziere bestanden weiterhin auf ihre ‚100 Gramm‘ zur Mahlzeit. Aus 100 Gramm werden schnell 200 und mehr. Ich erinnere mich, dass ich dieses Bild sah und ironisch dachte, dass wir es weit bringen werden.“ 

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