Die Tschuktschen, die Ureinwohner des hohen Nordens, leben nach den Gesetzen des Levirats, der Schwagerehe. Bei diesem Ehebrauch muss beim Verlust des Ernährers der Bruder oder ein anderer naher Verwandter des Verstorbenen für dessen Familie sorgen. Er ist verpflichtet, die Witwe zu heiraten und ihre Kinder zu adoptieren.
Aber das ist nur ein Teil der Ehetraditionen. Lange Zeit hielten die Menschen die Gruppenehe (wenn verheiratete Männer ihre Frauen mit engen Freunden oder entfernten Verwandten tauschen) für völlig normal.
Wie die Gruppenehe funktioniert
Die Tschuktschen nannten es „Gemeinschaft über die Ehefrau“ oder Newtumgyt. So schlossen die Männer eine Freundschaftsvereinbarung, die jedem Teilnehmer das Recht auf die Frau eines Freundes einräumte. Der Vertrag selbst wurde auf dieselbe Weise geschlossen wie eine rituelle Heirat – mit Blutsalbung und Opferdarbringung.
An einer Gruppenehe konnten zwei oder mehr Paare beteiligt sein. Die wichtigsten Bedingungen waren, dass sie einen separaten Haushalt hatten (d. h. sie mussten in verschiedenen Nomadenlagern leben), nicht miteinander verwandt und ungefähr gleich alt waren. Leibliche Brüder konnten an solchen Ehen nicht teilnehmen, ebenso wenig wie Menschen verschiedener Generationen.
Gleichzeitig wurden die Ehefrauen vergleichsweise selten miteinander getauscht und zwar während der Fahrten zum Lager des „Freundes für die Frau“. Jeder Mann nahm sich die Frau des anderen, lebte einige Monate mit ihr zusammen und gab sie danach in der Regel an ihren Mann zurück (es gab aber auch Fälle, in denen er sie ganz für sich behielt). Alle Mitglieder dieser großen kollektiven Familie galten als gleichberechtigte Verwandte, die füreinander verantwortlich waren, und alle Kinder, die in einer „Ehegemeinschaft“ geboren wurden, galten als Brüder und Schwestern, die keine intimen Beziehungen eingehen durften. Nur das Vermögen blieb getrennt: Die Kinder einer Ehegemeinschaft konnten es nicht beanspruchen, und es gab kein gemeinsames Vermögen dieser Gemeinschaft.
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts glaubten die Tschuktschen, dass es für diesen Ehebrauch gute Gründe gab.
Es ist von Vorteil zu überleben
Das Überleben und der Fortbestand des eigenen Stammbaums war die Hauptaufgabe der nomadischen Gesellschaften. Die Tschuktschen waren gezwungen, unter sehr harten Bedingungen zu überleben. In dieser Situation war es vorteilhafter, in großen Gruppen zu bleiben: Eine große Zahl von Mitgliedern in einer Großfamilie erhöhte die Überlebenschancen, so dass es für die Schwachen oder Armen von Vorteil war, sich ihren wohlhabenden Verwandten anzuschließen. Die Geburt eines Kindes in der Tundra wurde von den Tschuktschen als großes Glück empfunden und es war für sie nicht so wichtig, wer die biologischen Eltern waren. Sie kümmerten sich gemeinsam um ihre Kinder, wie es in urtümlichen Gesellschaften üblich war.
Austausch von Waren und Einrichtung eines Netzwerks
Der russische Ethnograph Konstantin Kuksin stellte fest, dass eine solche „Verbrüderung“ für den Warenaustausch unter den Bedingungen des Hohen Nordens von Vorteil war: Die Menschen versuchten, eine kollektive Ehe mit Vertretern verschiedener „Berufe“ zu schließen – Seejäger, Rentierzüchter usw. Dadurch wurde aus einer solchen Familie ein starkes, unabhängiges Konglomerat.
Ethnographen haben auch beobachtet, dass die Tschuktschen ihre Frauen für die Nacht an Fremde anbieten, im Austausch für bestimmte Dinge (wie Tabak oder Schmuck für die Frau) oder als Zeichen der Gastfreundschaft. Gleichzeitig waren sich alle Beobachter darin einig, dass dies der Frau nichts ausmachte. In der Zeitung Polárnaja swesdá (dt.: Polarstern) wurden 1924 in mehreren Ausgaben Skizzen aus dem Leben der Ureinwohner Tschukotkas veröffentlicht, in denen der Brauch des Newtumgyts beschrieben wurde: „Ihre Auffassung von familiären Beziehungen ist sehr einfach. Ein Tschuktsche zum Beispiel bietet seine Frau einem Ehrengast an und geht selbst erst einmal am Ufer spazieren. Sie haben keine besitzergreifende Haltung gegenüber der Ehefrau oder dem Ehemann.“
Ersatz für das Levirat
Newtumgyt-Beziehungen wurden meist von Männern angestrebt, die keine jüngeren Blutsverwandten in der männlichen Linie hatten. Denn im Falle ihres Todes standen ihre Frauen und Kinder ohne einen Beschützer und Versorger da. In dieser Hinsicht ersetzte das Newtumgyt das Institut des Levirats: eine Frau, die eine solche Beziehung eingegangen war, würde auf keinen Fall mit Kindern mitten in der Tundra allein gelassen werden.
Kindermangel
Ein guter Grund für ein Paar, eine Gruppenehe einzugehen, war, dass es keine eigenen Kinder hatte. Wenn das Paar wegen der Zeugungsunfähigkeit des Mannes keine eigenen Kinder hatte, besaß die Frau auf diese Weise die Möglichkeit, schwanger zu werden.
„Die Familie Antaku hatte lange Zeit keine Kinder. Dann traten sie in eine Newtumgyt-Beziehung mit der Familie Antolin. Aus dieser Verbindung ging ein Sohn hervor und auch die Antakus selbst bekamen zwei Kinder. Wenn einer der Antaku-Söhne zu den Antolins kam, wurde er von ihnen wie sein eigenes Kind empfangen und sie waren bereit, ihm alles zu geben, was er wollte. Wenn kein Kind aus einer solchen Verbindung hervorgegangen wäre, hätte es kein so enges Verhältnis zwischen diesen Familien gegeben“, schrieben Forscher über einen Fall im Dorf Wajegi im Bezirk Anadyr.
Ein gesunder Genpool
In kleinen Gemeinschaften ist es genetisch vorteilhaft, eine große Anzahl neuer Kombinationen zu schaffen. Andernfalls könnten kleine nomadische Völker, die gezwungen sind, isoliert von der Außenwelt zu leben, unter genetischen Problemen leiden. Um dies zu vermeiden, haben sich urtümliche Gesellschaften intuitiv durch solche Vermischungen eine größere Vielfalt gesichert. Je vielfältiger die Paare sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Nachkommen gesund sind. Aus diesem Grund luden die Tschuktschen gerne Fremde zum Frauentausch ein.
Das Ende dieser Tradition
Während noch Ende des 19. Jahrhunderts die Gruppenehe einen beträchtlichen Teil der Tschuktschen-Familien ausmachte, verschwand diese Form des Zusammenschlusses in der Mitte des 20. Der Hauptgrund dafür war der Übergang der Tschuktschen zur modernen sesshaften Lebensweise und die Entwicklung des traditionellen Handwerks. Viele Vorteile, die der Ehebrauch früher mit sich brachte, wurden einfach bedeutungslos. So entwickelte sich beispielsweise die Rentierzucht im hohen Norden intensiver als die Seefischerei – und der Austausch von Ehefrauen mit Paaren, in denen es Fischer gab, war nicht mehr gleichwertig.