Am 24. Januar 1878 betrat eine junge Frau das Büro des Gouverneurs von St. Petersburg Fjodor Trepow. Dort zog sie einen Revolver Webley .450 Revolver hervor und schoss auf den Beamten. Die darauf folgende Gerichtsverhandlung erschütterte das gesamte russische Reich.
Das Verbrechen
Der Fall versprach, für die Staatsanwaltschaft einfach zu werden. Die 27-jährige Wera Sassulitsch, die bereits vorbestraft war, hatte das Büro des Regierungsbeamten betreten, um diesem eine Bittschrift zu überreichen und ihn angeschossen.
Der Mordversuch war einfach zu untersuchen, da Sassulitsch nicht vom Tatort floh, sondern auf die Polizei wartete und bei deren Eintreffen ein Geständnis ablegte. Ihr drohten bis zu 20 Jahre Zwangsarbeit und eine Aberkennung ihrer Bürgerrechte.
Der Fall hätte für die Staatsanwaltschaft ein Kinderspiel sein sollen, aber irgendwo im Prozess passierten ein paar Pannen, die einen juristischen Sumpf von unvorhergesehenem Ausmaß offenlegten.
Der fatale Fehler
Der Fall begann der Staatsanwaltschaft zu entgleiten und das lag an dem charismatischen Anwalt des Angeklagten, Pjotr Alexandrow. Zeitgenossen charakterisierten ihn als herausragenden Juraprofessor und öffentlichen Redner. Im Gegensatz dazu wurde Staatsanwalt Konstantin Kessel nicht so positiv bewertet.
Die Auswahl der Geschworenen erwies sich als weiterer Fehltritt der Staatsanwaltschaft. Aus unbekannten Gründen verzichtete der Staatsanwalt auf sein Recht der Vorvernehmung der Geschworenen und versäumte es offenbar, deren Unbefangenheit sicherzustellen. Der clevere Verteidiger zögerte nicht, diesen Fehler zu seinem Vorteil zu nutzen. Im Grunde genommen formte Verteidiger Alexandrow die Jury praktisch nach seinen Bedürfnissen.
Er wählte Personen mit liberaler Gesinnung aus, die vergleichsweise unabhängige Ansichten vertraten und nicht mit dem mächtigen Opfer des Verbrechens sympathisierten. Offenbar spielte dieser Faktor die entscheidende Rolle für den Ausgang dieses skandalösen Gerichtsprozesses.
Ein moralisches Dilemma
Das Motiv und der Hintergrund der Angeklagten, die vom Verteidiger sorgfältig dargelegt wurden, erwiesen sich als der letzte Nagel im Sarg der Staatsanwaltschaft.
Alexandrow stellte Sassulitsch sorgfältig als ein wiederholtes Opfer der Willkürherrschaft des repressiven Regierungssystems dar. Ihr Leben sei eine Kette aufeinander folgender Ungerechtigkeiten gewesen: Sie wurde früher zu Unrecht verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und später ins Exil gezwungen. Ihr Hintergrund, so argumentierte Sassulitschs Verteidiger, prädestiniere sie dazu, äußerst empfindlich auf Ungerechtigkeiten zu reagieren, unabhängig davon, wer das Opfer sei.
Der Verteidiger präsentierte ein überraschend merkwürdiges Motiv für den Mordversuch. Die sehr empathische Sassulitsch, so argumentierte er, rächte eine nicht verwandte Person, die unter dem Unrecht litt, das ihr vom Opfer zugefügt worden war.
Jeder der Geschworenen kannte die Geschichte, die zuvor in St. Petersburg für viel Aufsehen gesorgt hatte. Gouverneur Trepow hatte die Auspeitschung eines Häftlings angeordnet, weil dieser ihn nicht mit dem Abnehmen seines Hutes gegrüßt hatte. Die willkürliche Bestrafung war zwar rechtswidrig, wurde aber auf Trepows Befehl hin dennoch vollzogen. Sassulitsch war empört über diesen besonderen Fall von Ungerechtigkeit und reiste nach St. Petersburg, um sich an dem Mann zu rächen, den sie nicht einmal persönlich kannte.
Alexandrow stellte Trepow als Tyrannen dar, Sassulitsch als eine Gerechtigkeitssuchende, die in einem ungerechten System gefangen ist. In seinem Plädoyer forderte der Verteidiger die Geschworenen auf, das übliche Schablonendenken von schuldig oder nicht schuldig zu vergessen und stattdessen ein allgemeines moralisches Urteil über die gesamte Situation zu fällen.
Als die zwölf Geschworen nach ihrer Beratung zurückkehrten, herrschte Schweigen im Gerichtssaal.
„Der Vorsitzende reichte mir mit zittriger Hand das Blatt. Gegenüber der ersten Frage stand in großer Handschrift: ,Nein, nicht schuldig’. Ein Wirbelsturm von Gedanken über die Folgen, den Eindruck und die Bedeutung dieser drei Worte schoss mir durch den Kopf, als ich sie unterschrieb“, bemerkte der Vorsitzende Richter Anatolij Koni.
Im Gerichtssaal brach ein Chaos aus, als die Anwesenden mit stürmischem Beifall ihre Solidarität mit dem juristisch höchst umstrittenen, aber – nach Meinung vieler – gerechten Urteil der Geschworenen bekundeten. Sassulitsch wurde freigesprochen und noch im Gerichtssaal aus der Untersuchungshaft entlassen.
Der berühmte Fall von Wera Sassulitsch soll den Zaren erzürnt und die Karrieren mehrerer Personen, einschließlich des Richters Koni und des Justizministers selbst, beendet haben.
Aus Angst vor Konsequenzen verschwand Sassulitsch sofort und verließ später mithilfe ihrer Freunde das Land. Wie zu erwarten war, wurde gegen die Entscheidung des Gerichts Berufung eingelegt und das Strafverfahren wieder aufgenommen, aber da war die Angeklagte bereits verschwunden.