Fünf Gründe, warum Turgenjew nicht weniger cool als Tolstoi ist

Kultur
ALEXANDRA GUSEWA
Im Ausland ist Iwan Turgenjew zu Unrecht wenig bekannt, aber er ist einer der größten russischen Klassiker. Zu Ehren seines 200. Geburtstages (am 9. November) erklären wir, warum Sie diese Lücke füllen und seine Geschichten und Romane lesen sollten.

1. Er schuf das Bild einer beherzten Frau

Der Großteil der russischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentriert sich auf männliche Gestalten, während Frauen als „Beilage“ fungieren und meist nur unter ihrer unglücklichen Liebe leiden.

„Turgenjews junge Dame“ ist ein Ausdruck, der in einem etwas vereinfachten Sinne eine „zarte und rührende Person mit rosa Wangen“ bezeichnet, aber tatsächlich eine starke und unabhängige Frau symbolisiert. Vor ihrem Hintergrund sehen Männer weich und zögerlich aus. Asja aus der Geschichte „Asja“, Lisa Kalitina aus dem „Adelsnest“ und Natalja Alexejewna aus dem Roman „Rudin“ sind alle gebildete Mädchen, die in ländlichen Anwesen aufwuchsen und daher nicht durch weltliche Konventionen eingeschränkt sind. Sie sind um ihre Lieben willen zu authentischem Handeln fähig, die das wahres Wesen des Mannes schätzen und nicht seine Protzigkeit.

Über besonders emanzipierte Damen macht Turgenjew sich jedoch lustig: Kukschina aus dem Roman „Väter und Söhne“ ist nahezu eine Karikatur. Sie raucht, benimmt sich gekünstelt, versucht, wie ein Mann zu sein, und liest und zitiert nach dem Zufallsprinzip Bücher des Bildungsbürgertums.

2. Er schnitt die wichtigsten Probleme an

Das Russland des 19. Jahrhunderts ist ein literarisch orientiertes Land, das Neuigkeiten aus der Literatur erfährt. In dem berühmten Roman „Väter und Söhne“ warf Turgenjew erstmals eine Frage auf, die für alle Zeiten und Völker relevant ist: Die Widersprüche zwischen Vätern und Kindern, zwischen diesen beiden verschiedenen Generationen, sind unlösbar -sie werden sich nie verstehen.

Turgenjews zeitkritischer Roman „Väter und Söhne“ öffnete der Gesellschaft die Augen über die Existenz der Nihilisten – Menschen, die sowohl Religion als auch Verhaltensregeln in der Gesellschaft und selbst die Liebe leugnen („Nichts weiter als Chemie“).

Darüber hinaus prägte Turgenjew den Begriff des „überflüssigen Menschen“ – eines intellektuellen Skeptikers, der sich anderen gegenüber überlegen fühlt. Turgenew stellt ihn in vielen seiner Werke dar, vor allem als Basarow in „Väter und Söhne“, Lawrezkij im „Adelsnest“ und Tschulkaturin im „Tagebuch eines überflüssigen Menschen“.

3. Er trat für die Leibeigenen ein

Der Kampf gegen die Leibeigenschaft (sprich Sklaverei) nannte Turgenjew die Aufgabe seines Lebens. In der Sammlung von Erzählungen „Aufzeichnungen eines Jägers“ wirft der Schriftsteller zum ersten Mal das Thema des unterdrückten russischen Volkes auf, poetisiert den Fleiß und die Gutherzigkeit der einfachen Menschen und beschreibt ihr schreckliches Leiden durch die Gutsbesitzer.

Die Sammlung brachte Turgenjew große Popularität, es wurde ihm allerdings untersagt, sie erneut aufzulegen. Der Zensor, der die Veröffentlichung freigegeben hatte, wurde auf persönliche Anordnung des Zaren Nikolaus I. entlassen.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 wurde das Thema des unterdrückten Volkes von Nikolai Nekrassow, einem anderen russischen Klassiker, aufgegriffen. Der Freund Turgenjews veröffentlichte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Sowremennik erstmals die „Aufzeichnungen eines Jägers“.

4. Er war einer der ersten, die das Talent Lew Tolstois erkannten

Turgenjew war zehn Jahre älter als Tolstoi. Er war bereits ein ernstzunehmender und berühmter Schriftsteller, als der junge Lew gerade seinen literarischen Weg begann. Nachdem er das Manuskript von Tolstois autobiografischer Geschichte „Kindheit“ gelesen hatte, schrieb Turgenjew, dass dieser ein „vielversprechendes Talent“ sei, und übermittelte dem Autor seine Hochachtung. Nach der Veröffentlichung der zweiten Novelle „Knabenalter“ erklärte Turgenjew, dass Tolstoi „zu unseren besten Schriftstellern“ gehöre.

Tolstoi seinerseits bewunderte Turgenjews Schreibfertigkeiten, insbesondere seine Fähigkeit, die Natur und die Liebe, mit der er das gemeine Volk porträtiert, zu beschreiben. In seinem Tagebuch schreibt Tolstoi, dass es ihm nach dem Lesen von „Aufzeichnungen eines Jägers“ sogar schwer falle zu schreiben.

Auch Fjodor Dostojewski schätzte Turgenjew sehr: In einem Brief an seinen Bruder schreibt er: „Was für ein Mann! <...> Dichter, Talent, Aristokrat, gutaussehend, reich, klug, gebildet, 25 Jahre alt – ich weiß nicht, womit die Natur ihm nicht belohnt hat…“

5. Er popularisierte die russische Literatur in Europa

Turgenjew studierte in Berlin. Er reiste viel, lebte später in Baden-Baden und Paris, korrespondierte und kommunizierte mit den bekanntesten Schriftstellern des Westens: Dickens, Hugo, Maupassant, Flaubert und vielen anderen. In Europa, wo niemand Russisch lesen konnte, propagierte Turgenjew die russische Literatur und erzählte über das Genie Puschkins und anderer russischer Schriftsteller.

Er stellte dem russischen Leser auch die Autoren des Westens vor, übersetzte Byron und Shakespeare. Und beschwerte sich, dass die Dramatiker den „Schatten“ des großen Barden nicht loswerden und aufhören könnten, ihn nachzuahmen.

Übrigens war Turgenjew selbst ein erfolgreicher Dramatiker: Russische Theater inszenieren und spielen auch heute noch seine Stücke. Im Jahr 2014 zeigten viele europäische Kinofestivals eine Verfilmung von „Ein Monat auf dem Lande“ – „Two Women" mit dem britischen Schauspieler Ralph Fiennes in der Hauptrolle.

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