Meinung: Warum wir den Mehrteiler „Chernobyl“ anschauen sollten, obwohl er viele Lügen enthält

HBO, 2019
Die Autoren der HBO-Miniserie „Chernobyl“, hatten Zugriff zu allen Dokumenten jener Zeit. Dennoch entschieden sie sich für eine sehr selektive, negative Darstellung der sowjetischen Behörden und Fachleute. Sie werden als völlig inkompetent und bereit, aus Nachlässigkeit über Leichen zu gehen, gezeichnet.

Der Drehbuchautor von „Chernobyl“ Craig Mazin beschreibt eine Realität, die selbst von den Russen als Wendepunkt in der Geschichte der untergehenden Sowjetunion bezeichnet wird. Er zeigt wie Vertuschung, eine fast schon kriminelle Fahrlässigkeit, menschliches Versagen und eine selbstzufriedene Bürokratie zu einer großen nuklearen Katastrophe geführt haben. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers langsam von der unsichtbaren Bedrohung durch die radioaktive Strahlung zu einer weitaus größeren Bedrohung: der Sowjetunion.

(Achtung: Spoiler!)

1. Das Ausmaß der sowjetischen Unfähigkeit

Mazin lässt die sowjetischen Verantwortlichen, von den Kraftwerksingenieuren bis zu den Militärs, gegen Betriebsanweisungen verstoßen. Die ersten drei Folgen fokussieren sich zudem auf eine als verantwortungslos dargestellte kommunistische Überzeugung.

Es stimmt: Die Reaktoren von Tschernobyl hatten Mängel, die jedoch auch den Betreibern nicht bekannt waren. In der vierten Folge werden diese Mängel mit den tödlichen Auswirkungen realitätsnah aufgezählt. Da gab es den plötzlichen Temperaturanstieg, der entsteht, wenn alle Brennstäbe zeitgleich abgeschaltet werden, um die Energieproduktion zu drosseln.

Werden sie wieder angeschaltet, erhöht sich die Produktion plötzlich um den Faktor 20. Dies hat zur Explosion in Reaktor 4 geführt, einem RBMK-Typen, der in der ganzen Sowjetunion gebaut wurde. Es gibt viele Belege dafür, dass die Sowjetunion sorglos mit dem Thema Kernenergie umging. Es war insgesamt ein gefährliches Projekt. Doch einige der in der Serie als Schuldige ausgemachten Personen, werden in ihrer Unprofessionalität zu sehr überzeichnet. Sie wirken wie Karikaturen. Das betrifft insbesondere den stellvertretenden Chefingenieur Anatolij Djatlow, der despotische Antagonist im Kontrollraum, der hinter der tödlichen Kette von Entscheidungen steckt, die alles noch schlimmer gemacht hat.  

>>> War Anatoli Djatlow wirklich der Hauptschuldige der Tschernobyl-Katastrophe?

2. Vorgesetzten widersprechen ist schlimmer als der Tod

Djatlow, stets als aggressiver Verrückter dargestellt, herrscht über seine Untergebenen, als wären es ausnahmslos machtlose Schwächlinge. Jeder in Kontrollraum 4 berichtet Djatlow vom Schaden am Reaktor, doch dieser beharrt darauf, dass nur der Kühlturm betroffen sei.

Das ist nicht wahr, wie Aufzeichnungen aus Gesprächen mit Djatlow selbst beweisen. Djatlow erkannte recht schnell, wo das wahre Problem lag. Er gab sogar zu, dass es ein Fehler gewesen sei, die AZ-5-Taste zu drücken, mit der die Brennstäbe abgeschaltet wurden. Doch er traf die Entscheidung, sie wieder einzuschalten, entscheidende Sekunden zu spät. Er hatte nicht genug Informationen über den Reaktortyp, um anders zu handeln. In Episode 5 bricht der Ärger darüber aus ihm heraus.

Tatsache ist, dass die Stimmung im Kontrollraum von Reaktor 4 am 26. April von Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit geprägt war.

3. Sowjets wurden nur mit vorgehaltener Waffe zu Helden

Was ich am meisten kritisieren möchte ist, dass in dem Film, vom Bergungsarbeiter bis zu zivilen Unterstützern, jedem Geld geboten wird und vor allem sehr viel Wodka, damit überhaupt jemand bereit ist, Hilfe zu leisten. Der New Yorker Mazin scheint zu glauben, dass selbst im Angesicht des Todes Geld das einzige war, was einen Sowjetbürger zum Handeln bewegen konnte.

Etwa eine Stunde nach der Explosion schickt der Kraftwerkdirektor Wiktor Brjuschanow den Chefingenieur Anatolij Sitnikow auf das Dach von Reaktor 4, um das Ausmaß des Schadens zu begutachten. Und vor der Tür warten tatsächlich bewaffnete Einsatzkräfte. Es könnte ja sein, dass einer unerwartet handelt und  umgehend hingerichtet werden müsste.

Es ärgert mich einfach, dass Mazin so tut, als wären die Menschen in der Sowjetunion nur mutig gewesen, wenn sie mit der Waffe am Kopf dazu gezwungen wurden, mutig zu sein oder wenn sie zuvor mit Geld bestochen oder mit Wodka abgefüllt wurden.  Dass wird den 600 000 Freiwilligen, die Schadensbegrenzung unter Einsatz ihres eigenen Lebens betrieben und Europa vor noch Schlimmerem bewahrt haben, nicht gerecht. Bei Mazin werden die Menschen nur durch Waffengewalt zu Helden.

4. Weder gab es ein geheimes Treffen im Bunker noch die Evakuierung von Prypjat!

Eine der Kernthesen der Serie ist die rücksichtslose sowjetische Entscheidungsfindung. Es wird alles in der Macht stehende getan, um das Image zu wahren. Die Parteifunktionäre genehmigen sich noch eine kräftige Gehaltserhöhung  und versagen also sogar dabei, Kommunisten zu sein. Sie sollten ihren Job aufgeben. Das in der Serie gezeigte Treffen mitten in der Nacht hat niemals stattgefunden. Dennoch zeigt Mazin es. Und mehr noch: er führt den Zuschauer in einen Raum voller Schwachsinniger, die, unter sowjetischer Hypnose stehend, die Blockade der Stadt Prypjat anordnen. Die hat es jedoch nie gegeben. Tatsächlich verließen die Bewohner die Stadt ab dem 27. April in Scharen. Das war nur wenige Stunden nach der Explosion.

Warum Halbwahrheiten schlimmer sind als offenkundige Lügen

Mazins „Chernobyl“ zeigt durchaus einige schmerzhafte Wahrheiten, denen sich die Russen stellen sollten. Doch es wäre wünschenswert gewesen, wenn es nicht nur die Wahrheiten gewesen wären, die für einen westlichen Filmemacher ins Bild passten. Diese selektive Darstellung führt dazu, dass das westliche Publikum den Regierungen seiner Länder weiter erlaubt, Russland, den auserwählten neuzeitlichen Feind der USA, weiter zu dämonisieren und zu verfolgen. Wäre Tschernobyl in einem Land passiert, dass mit den USA oder der EU verbündet gewesen wäre, wäre das alles nicht notwendig gewesen.  

Warum Mazins „Chernobyl“ dennoch auch ein Lob verdient

Hätte es nicht so viele mutige Menschen wie den Wissenschaftler Waleri Legassow gegeben, hätten die verbliebenen Reaktoren wohl ein ähnliches Schicksal wie Nummer 4 gehabt. Die korrupte Bürokratie der Ära der späten Sowjetunion ist zum Glück Vergangenheit. Vetternwirtschaft, Schleimerei, Angst vor Vorgesetzten -  das alles gibt es jedoch auch noch tagtäglich im modernen Russland. Wir haben immer noch nicht gelernt, die kollektiven Ergebnisse über die Interessen einer kleinen Minderheit von Personen zu stellen, die in diesem Kollektiv arbeitet. So greift Mazin in den Augen des modernen russischen Zuschauers unabsichtlich etwas auf, das ganz nah ist.

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