Michail Lermontows Meisterwerk „Ein Held unserer Zeit“ aus dem 19. Jahrhundert passt auch sehr gut in die heutige Zeit und ist ein perfektes Buch, um es in der Selbstisolation zu lesen. Der Protagonist Petschorin könnte als Verkörperung eines gefährlichen Virus betrachtet werden, das sich ungehemmt ausbreitet und alles zerstört, was mit ihm in Kontakt gekommen ist.
Der 1840 veröffentlichte Roman besteht aus fünf Kurzgeschichten, in deren Mittelpunkt Petschorin steht, ein unzufriedener junger Soldat und der Inbegriff eines „unmoralischen“ Menschen. Die Geschichten werden aus der Perspektive von sich erinnernden Wegbegleitern erzählt oder als Tagebucheintrag Petschorins.
Dieser Petschorin ist gerissen und grausam, er manipuliert selbst enge Freunde und sein Verhalten gegenüber Frauen würden wir heutzutage definitiv als emotionalen Missbrauch einstufen.
Viel wurde diskutiert, ob Lermontow seinen Helden nun kritisch zeichnen wollte oder Bewunderung für ihn hegte. Ein Kritiker des 19. Jahrhunderts, Wissarion Belinski, verteidigte Petschorin als Opfer seiner Zeit. In jüngerer Zeit hat ihn der US-amerikanische Kritiker Christopher Hitchens als unterdrückten Homosexuellen charakterisiert.
Vielleicht betrachten wir Petschorin unter dem Eindruck der aktuellen Coronavirus-Pandemie in einem ganz neuen Licht und sehen ihn als „Krankheit“, wie ihn auch Lermontow beschreibt.
Petschorins verhält sich wie ein Virus. Er ist ein zutiefst unsteter, getriebener Mensch. In einem seltenen Moment der Selbstreflektion erkennt Petschorin dies als Schlüsselelement seiner Persönlichkeit. Er glaubt, immer in Bewegung sein zu müssen, um am Leben bleiben zu können.
Einer der Orte, an denen er am längsten verbringt, ist die Kurstadt Pjatigorsk. Es scheint bezeichnend, dass Lermontow einen Ort wählt, an dem sich verwundete Soldaten und alte, gebrechliche Menschen erholen sollen. Der Dichter schafft eine dramatisch gefährliche Situation: Petschorin wird auf all diese geschwächten Menschen losgelassen.
Sofort torpediert er die Versuche seines Freundes Gruschnitzkij, die Gunst der Prinzessin Mary zu erlangen. Jedes Mal, wenn Gruschnitzkij Kontakt zu Petschorin hatte, scheinen Selbsthass und Zynismus gewachsen sein. Innerhalb weniger Tage mutiert der freundliche und romantische jungen Mann zu einem Unsympathen, der die älteren Herrschaften, die vor ihm in der Schlange zum Spa stehen, anpöbelt.
Lermontow stößt uns selbst immer wieder auf Petschorin als menschliche Verkörperung einer Krankheit. Mary zum Beispiel wird umgehend nach einem physischen Kontakt mit ihm krank. Petschorin hat ihre Hand ergriffen und sie unerwartet geküsst und bald darauf erfahren wir, dass es Mary schlecht geht. Sie beginnt, sich zu Hause zu isolieren, liest am Fenster sitzend und verpasst gesellschaftliche Ereignisse. Die Worte von Marys Mutter klingen dem modernen Leser im Ohr: „Es ist keine einfache Krankheit!“. Die Mutter beschuldigt Petschorin: „Ich bin überzeugt, dass Sie die Ursache dafür sind.“
Krankheit zieht sich durch den Text. Petschorins frühere Geliebte Vera leidet unter fortgeschrittener Tuberkulose. Sie soll eigentlich in Quarantäne verweilen, doch will sie nicht auf sexuelle Aktivitäten verzichten und trifft sich heimlich mit Petschorin. Wenig überraschend verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand danach rapide. In einem verzweifelten Versuch, sich zu verabschieden, treibt Petschorin sein Pferd derart heftig an, dass das arme Tier stürzt und stirbt!
Nur sein engster Freund, ein Arzt namens Werner, überlebt eine längere Interaktion. Er scheint zu erkennen, wie gefährlich Petschorin geworden ist, und reicht ihm bei ihrem letzten Treffen vorausschauend nicht die Hand zum Abschied.
Es könnte sein, dass Petschorin zu spät erkennt, dass er die Ursache des Übels ist. Nachdem auch seine Geliebte Bela schließlich auf tragische Weise stirbt, scheint Petschorin einen psychischen Zusammenbruch zu erleiden. Er zieht sich vollständig aus der Gesellschaft zurück. Er isoliert sich. Für Christopher Hitchens ist die „tragischste Szene des Romans“ die, in der er selbst seinen alten Freund Maksim Maksymitsch auf Abstand hält. Dies wird oft als Beispiel für Petschorins Gefühlskälte angeführt, aber vielleicht versucht Petschorin auch, seinen Freund vor sich zu schützen und er will nicht weiteren Schaden in der Welt anrichten.
Lermontow selbst hatte von Kindheit an gesundheitliche Probleme und war daher sehr anfällig für Krankheiten. Vielleicht hat ihn das dazu gebracht, seinem Helden Petschorin so viele Merkmale einer gefährlichen Krankheit zu verleihen. Auf jeden Fall können wir jetzt besser verstehen, was Lermontow im Vorwort geschrieben hat: „Es reicht aus, dass auf die Krankheit hingewiesen wurde - wie sie geheilt werden soll, weiß Gott allein!“
Die aktuellen außergewöhnlichen Umstände, in denen wir uns zurückziehen und auf ein Heilmittel hoffen, bieten eine Gelegenheit, dieses großartige, vielschichtige Werk wieder einmal zu lesen.
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