Russischer Schauspieler Wladimir Koschewoi als Rodion Raskolnikow.
Dmitry Svetozarov/The ASDS Film Studio, 2007Die Hauptfigur in Schuld und Sühne ist von nihilistischen Ideen besessen. Rodion Raskolnikow ist ein moralisch zweideutiger junger Mann, der sich erlaubt, „Blut für sein Gewissen“ zu vergießen. „Bin ich eine zitternde Kreatur oder habe ich das Recht?“, fragt er sich kurzerhand und versucht herauszufinden, ob er „eine Laus, wie alle anderen, oder ein Mensch“ ist. Als der 23-Jährige im Rahmen eines moralischen Experiments eine alte Pfandleiherin mit einer Axt ermordet, ist die Sache klar. Im Nachhinein erweist sich sein Verbrechen schlimmer als der gruseligste Albtraum.
Schuld und Sühne ist Dostojewskis perfektester Kriminalroman mit einer psychologischen Wendung. Wir wissen zwar von Anfang an, wer wen, wo, wann, warum – und sogar wie – getötet hat. Aber die Millionenfrage ist, welches die existenziellen Folgen des Verbrechens sind und wie man damit leben kann. Dostojewski ist davon überzeugt, dass es unmöglich sei, Buße zu tun, ohne sich durch Versuchungen und schreckliche Nöte zu kämpfen, ohne gegen moralische Absolutheiten zu verstoßen.
(v.l.n.r.): Pawel Derewjanko, Sergei Gorobtschenko, Aleksandr Golubew, Anatolij Belyj und Sergeij Koltakow im Film „Die Brüder Karamasow“.
Yuri Moroz/Colibri Studio production, Central Partnership, 2009Niemand hat die Kunst, Fragen nach Recht und Unrecht zu stellen, je besser beherrscht als Dostojewski. Aber gerade diese „verfluchten Fragen“ sind es, die wirklich das Eis brechen. „Was ist die Hölle? Ich behaupte, dass es das Leiden ist, nicht lieben zu können“, so Dostojewski in Die Brüder Karamasow, seinem letzten, verstörenden Roman mit „Wer-war-es“-Handlung. Es geht dabei um Glauben, Freiheit und Familie.
Dostojewski nimmt die Seele jeder Figur unter die Lupe, sei es die des schrecklichen Fjodor Karamasows oder die seines emotional instabilen Bruders Dmitri, und zeichnet so ein ziemlich düsteres Porträt des russischen Nationalcharakters. Warum machen Dostojewskis Figuren nur dann bahnbrechende metaphysische Wandlungen durch, wenn sie sich in extremen Situationen befinden, zwischen Leben und Tod, im moralischen freien Fall? Vielleicht, weil sie nur in diesem entscheidenden Moment zum ersten Mal ehrlich auf sich selbst schauen, um dann einen Schrei der Verzweiflung auszustoßen.
Der bahnbrechende Schriftsteller besaß einen wahrhaft forensischen Verstand und nutzte die „Urinstinkte“ und Schwächen seiner Figuren, um die metaphysische Natur der Welt zu erklären. In Die Brüder Karamasow, einem wunderschön geschriebenen Roman mit einer großartigen Detektivgeschichte, erforscht Dostojewski die ethischen Facetten einer zerrütteten russischen Familie.
Dostojewskis Figuren sind insofern universell, als sie angefüllt sind mit Angst, Bösartigkeit und Elend und entschlossen sind, auf ihrer unaufhaltsamen Suche nach moralischer Freiheit und Glauben durch die emotionale Hölle zu gehen.
Evgenij Mironow als Fürst Lew Myschkin.
Vladimir Bortko/Теlefilm, 2003Die Schwächsten der Gesellschaft sind es, die Dostojewski am meisten faszinieren. Er gibt den Armen, den Kranken und den Ausgestoßenen eine Stimme. In Der Idiot erforscht der Schriftsteller Liebe und Mitleid, Stolz und Niedertracht, Großzügigkeit und Freundlichkeit.
Fürst Lew Myschkin, die Hauptfigur, ist ein Mann ohne Zukunft, ein epileptischer Weltverbesserer, der zu gutmütig, naiv und lächerlich kindisch ist, um im kaiserlichen Russland zu überleben. Wie die junge Gazelle das Futter für ein Raubtier ist, so ist Fürst Myschkin ein „Idiot“, der in einer Welt der waghalsigen Machthaber, wie Parfjon Rogoschin einer ist, scheitern muss.
Wie der Schriftsteller selbst betonte, waren es keine Geringeren als Jesus Christus und Don Quijote, die den Schriftsteller zu seinem Fürsten Myschkin „inspirierten“. Dostojewski wusste, wie er seine Vorbilder auswählt. Einige autobiografische Züge sind auch mit dem Bild des Fürsten Myschkin verbunden, der sogar die Epilepsie von Dostojewski „geerbt“ hat. Außerdem beschreibt der Fürst in dem ROman, als er ein Gespräch über die Todesstrafe in Europa und Russland beginnt, ausführlich die Gefühle eines Menschen, dem die Hinrichtung bevorsteht. Das ist es, was Dostojewski selbst erlebt hatte! 1849 wurde der Schriftsteller verhaftet, weil er dem Petraschewskij-Kreis angehörte, einer Gruppe radikaler St. Petersburger Intellektueller, die das sozio-politische System des Zarenreiches kritisierten und Möglichkeiten zu dessen Veränderung diskutierten. Im Jahr 1850 wurde der 28-jährige Dostojewski zusammen mit 20 anderen Mitgliedern zum Tode verurteilt. In einer seltsamen Wendung des Schicksals wurde das Urteil in letzter Minute umgewandelt. Die Strafmilderung war ein schwerer Schicksalsschlag und brannte sich in Dostojewskis Gedächtnis ein.
Anton Schagin als Pjotr Werchowenski im Film „Die Dämonen“.
Vladimir Khotinenko/Nonstop Production, 2014Dieser gewaltige Roman handelt von der teuflischen Versuchung, die Welt umzugestalten, von dämonischer Besessenheit durch die Kräfte des Bösen und von Zerstörung. In diesem Werk sagt Dostojewski die Ausbreitung von Nihilismus, Chaos und Hass voraus. Der Schriftsteller zeigte sich auch als Gläubiger und Prophet. „Jedes Mitglied der Gesellschaft sieht nach dem anderen und ist verpflichtet, ihn zu informieren... Jeder gehört allen und alle jedem. Alle sind Sklaven und in diesem Sklavenzustande untereinander gleich. In extremen Fällen kommen Verleumdung und Mord zur Anwendung; aber die Hauptsache ist die Gleichheit“, prophezeit er in diesem Roman.
Dostojewski war ein zutiefst religiöser Mensch, ein orthodoxer Christ, der den Namen Gottes in seinen Werken so oft erwähnte wie andere das Wetter. „Gott habe ich schon deshalb nötig, weil er das einzige Wesen ist, das man lebenslänglich lieben kann“, so heißt es in dem Roman. Das Bild eines „charmanten Dämons“ wurde von Dostojewski mit unfassbarer Kunstfertigkeit geschaffen. Nikolai Stawrogin hat einen außergewöhnlichen Verstand und eine gequälte Seele. Er ist ein Anti-Held, ein Mann mit tausend Gesichtern, ein Psychopath, ein Manipulator und ein Serien-Frauenheld.
Henry Czerny im Film „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“.
Gary Walkow/Renegade Films, Walkow-Gruber Pictures, 19951863 schrieb Dostojewski den wohl ersten existenzialistischen Roman: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, dessen Erzähler bereits im ersten Absatz einen auffallend nervösen Ton anschlägt. „Ich bin ein kranker Mensch... Ich bin ein böser Mensch. Ich bin ein unattraktiver Mensch.“
Es ist das Geständnis eines ehemaligen St. Petersburger Beamten und eine philosophische Geschichte über das Wesen des menschlichen Lebens; eine tragische Geschichte über die Natur unserer Begierden und ein Drama über die kranke Beziehung zwischen Vernunft und Untätigkeit. Der „Mann im Kellerloch", der weder einen Vor- noch einen Nachnamen hat, streitet sich mit seinen imaginären und realen Gegnern und denkt über die Gründe für menschliches Handeln, Fortschritt und Zivilisation nach. Er ist paranoid, pathologisch, pathetisch, arm und ein Einzelgänger, der am meisten Angst davor hat, entdeckt zu werden. Nach der Lektüre von Aufzeichnungen aus dem Kellerloch erkannte Friedrich Nietzsche, dass Dostojewski „der einzige Psychologe ist, von dem ich etwas lernen kann.“
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