Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale: Ein herrschaftliches Denkmal im Moskauer Kreml

William Brumfield
Der Historiker und Architekturexperte William Brumfield erklärt die Verbindungen zwischen der russischen Monarchie und diesem Denkmal des orthodoxen Glaubens.

Im Herzen der russischen Identität 

Russland hat viele heilige Stätten, aber keine ist für die Identität des Landes so wichtig wie die goldene Mariä-Entschlafens-Kathedrale (Uspenskij-Kathedrale) im Moskauer Kreml. Jahrhundertelang war diese Kathedrale das wichtigste Bauwerk Russlands und stand im Zentrum seiner Geschichte, Politik, Kultur und orthodoxen Religion. Auch nachdem der kaiserliche Hof nach St. Petersburg verlegt worden war, fand die Krönungszeremonie jedes russischen Herrschers in dieser Kathedrale statt, so auch die Krönung von Nikolaus II. am 26. Mai 1896. 

Moskauer Kreml. Südansicht vom Sophienufer über die Moskwa. Von links: Verkündigungskathedrale, Entschlafungskathedrale, Erzengel-Michael-Kathedrale, Glockenturm von Iwan dem Großen. 29. Dezember 1987

Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale ist dem berühmtesten Mysterium in der orthodoxen Theologie gewidmet, nämlich der Entschlafung der Gottesmutter, die sich auf die Versetzung Marias aus dem Diesseits in den Himmel bezieht. Die orthodoxe Ikonographie stellt die liegende Mutter Gottes, umgeben von Aposteln, schlafend dar. Daher kommt auch der Begriff „Entschlafung“ (russisch „uspenije“).

Die Ursprünge der Entschlafungskathedrale im Kreml sind eng mit dem Machtaufstieg Moskaus verbunden. Im Jahr 1326 machte der führende russische Kirchenprälat, Metropolit Peter von Wladimir, den Moskauer Kreml de facto zu seiner Residenz. Dieser Schritt, der von Großfürst Iwan I. (Kalita) sorgfältig vorbereitet wurde, war nicht nur für den politischen und religiösen Status Moskaus von Bedeutung, sondern auch für seine architektonische Entwicklung.

Inthronisierung von Michail Romanow in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale. Reproduktion einer Abbildung von 1673.

Im Jahr 1326 legte Iwan unter Mitwirkung von Peter den Grundstein für die Mariä-Entschlafens-Kathedrale. Die Widmung der Kathedrale zum Entschlafungs-Fest symbolisierte die Fortsetzung zu der ebenfalls großen Entschlafungs-Kathedrale in der Stadt Wladimir, dem politischen Zentrum des vormongolischen Russlands.         

Verteidigerin des Glaubens       

Das Gefühl, dass Moskau die einzige unabhängige orthodoxe Macht war, wurde während der Herrschaft von Iwan III. (1462-1505) noch verstärkt. Um die neue Autorität Moskaus zu stärken, ließ Iwan den Kreml, einschließlich seiner Mauern und Türme, in großem Stil umbauen. Ein zentraler Teil des Projekts war der Wiederaufbau der Mariä-Entschlafens-Kathedrale.

Da Moskau nicht über das technische Wissen für den Wiederaufbau des Kremls verfügte, beauftragte Iwan italienische Architekten, darunter den berühmten Aristotele Fioravanti, der 1475 mit seinem Sohn in Moskau eintraf. Fioravanti wurde angewiesen, sich bei seinem Entwurf an der Entschlafens-Kathedrale in Wladimir zu orientieren, die er auch besuchte.

Fioravanti übernahm Merkmale des russisch-byzantinischen Stils – insbesondere die große zentrale Kuppel mit kleineren Kuppeln an den Ecken und Blendarkaden entlang der Fassade. Aber er führte auch wichtige Neuerungen ein, wie z. B. die Verwendung von robusten Eichenpfählen für das Fundament, komplexe Mauerwerksverbindungen für die Wände, eiserne Zugstangen zur Verstärkung der Deckengewölbe und große Ziegelsteine (anstelle von Steinen) für die Gewölbe und Kuppeltrommeln, die auf den Hauptkalksteinwänden ruhen.

Ein großer und feierlicher Raum

Das Innere ist ein Wunder voller Farbe und Offenheit. Anstelle der unüblichen, massiven Innenpfeiler, die die Decke stützen, entwarf Fioravanti runde Säulen, die das Gefühl von Licht und Räumlichkeit verstärken.

Die durch Fioravantis gestalterische und technische Innovationen geschaffene Geräumigkeit wurde durch die Entscheidung verstärkt, die Chorempore, ein traditionelles Element bei der Gestaltung großer russischer Kirchen, wegzulassen und so einen direkten Blick auf den Hauptraum zu ermöglichen. Von der Westfassade bis zum Ikonenschirm vor dem Altar im Osten wird der Innenraum anhand der leuchtenden Farben der Fresken und Ikonen erhellt.

Die Mariä-Entschlafens-Kathedrale zeigt mit ihrer Großartigkeit das für die russisch- orthodoxe Kirche typische Bemalen der Wände und Deckengewölbe mit Szenen aus der Bibel und dem Leben der Heiligen. Das Innere der Hauptkuppel zeigt wiederum traditionell ein Bild des Christus Pantokrators (Herrscher des Alls). Durch diese Bilder wurde das Bauwerk mit der heiligen Lehre der Orthodoxen verbunden.

Die Arbeiten an der Bemalung des Innenraums begannen bald nach dem Abschluss der Bauarbeiten im Jahr 1479 und bis 1515 wurde der gesamte Raum mit Fresken bedeckt. Darüber hinaus wurde 1481 ein dreireihiger Ikonenschirm von dem berühmten Künstler Dionisius und seinen Assistenten gemalt, die möglicherweise auch an der Ausmalung der ursprünglichen Fresken beteiligt waren.

Die Fresken wurden in den Jahren 1640-1642 komplett neu gemalt, wobei sie dem ursprünglichen Schema folgten und 249 in Reihen angeordnete Szenen enthielten. Die heutige Ikonenwand stammt aus dem Jahr 1653, obwohl viele dieser Ikonen schon viel älter sind.      

Fioravantis Mariä-Entschlafens-Kathedrale, die als großer Raum für Anlässe und Feierlichkeiten, unter anderem für die Krönung russischer Herrscher und die Einsetzung von Metropoliten (später Patriarchen) der russisch-orthodoxen Kirche in ihr Amt verwendet wurde, spiegelt das gelungene Aufeinandertreffen zweier Kulturen, der russischen mit ihrem byzantinischen Erbe und der westeuropäischen, die in Elementen der italienischen Renaissance zum Ausdruck kommt, wider.

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