Warum Lkw-Streiks Russland nicht lahmlegen können

Proteste gegen steigende Benzinkosten ergriffen zahlreiche russische Städte und breiten sich weiter aus. Warum der russische Warentransport dennoch nicht völlig still steht.

Der Ärger der Lkw-Fahrer

Noch April 2017 sowie zuvor Ende 2015 beteiligten sich Tausende russische Truckerfahrer an russlandweiten Massenstreiks. Sie protestierten auf die sogenannte „italienische Weise“: Sie blockierten den Verkehr durch riesige Lkw-Kolonnen oder bewegten sich mit nur fünf bis zehn Stundenkilometern fort. Sie streikten wegen der Einführung des neuen Platon-Bezahlsystems für Lkw-Fahrer auf Bundesstraßen. Sie betrachteten die eingeführten Gebühren als ungerechtfertigt hoch an.

In beiden Fällen (sowohl 2015 als auch 2017) gab es für die gesamte russische Bevölkerung kaum drastische Folgen der Streiks. Die Proteste führten nur an einigen Orten zu erhöhten Preisen. Zum Beispiel in Dagestan im Nordkaukasus stieg die Inflation der Lebensmittelpreise von 2,24 Prozent vor auf 3,7 Prozent nach den Protesten. Dennoch wurden die russischen Straßen keineswegs lahmgelegt. Die Behörden teilten mit, dass nur jeder hundertste Lkw-Fahrer überhaupt an den Protesten teilgenommen hätte.

Wie das Straßennetz wuchs

Die Befürchtungen beruhten auf der Tatsache, dass der Landweg per Straße einen großen Anteil am gesamten Güterverkehr Russlands hat. Er ist dreimal so groß wie der per Eisenbahn: 5041 Millionen Tonnen gegenüber 1329 Millionen Tonnen im Jahr 2015.

Russland hat dafür ein weitgehend ausgebautes Straßennetz. Laut den Daten eines CIA-Faktenbuches belegt es weltweit den fünften Platz mit fast 1,5 Millionen Straßenkilometern. Das Netzwerk wuchs mit der Ausdehnung des russischen Territoriums. Großen Einfluss auf die Entwicklung der Straßeninfrastruktur im mittelalterlichen Russland hatten die Tataren. Als Eindringlinge haben sie gleichzeitig mit der Eroberung Russlands im 13. Jahrhundert auch das System spezieller Haltestellen entlang der Straßen eingeführt, die Pferde für Boten lieferten und sich um den Zustand der Straßen kümmerten. Dies erleichterte die Kommunikation erheblich.

Erst mit Peter dem Großen entstanden dann im 17. Jahrhundert die ersten richtigen Straßen. Intensive Straßenbauten fanden auch während des zweiten großen Modernisierungsprogramms in Russland statt: unter Josef Stalin ab den 1930er Jahren.

Im Zugfieber

Es wäre jedoch völlig falsch zu sagen, dass Straßentransport die dominierende Position auf dem russischen Markt einnehme. Betrachtet man den in Tonnenkilometern berechneten Frachtumschlag wird der reale Ort des Autotransports offensichtlich: Er ist zehnmal kleiner als der Schienenverkehr und umfasste beispielsweise 2015 nur 232 Milliarden gegenüber 2306 Milliarden Tonnenkilometer. Das bedeutet, dass die Eisenbahn den Transport von Gütern natürlich besser über längere Strecken ermöglicht, während der Autoverkehr hauptsächlich Kurzstreckenfahrten bedient.

Die russische Eisenbahn hat diese zentrale Position im russischen Transportnetz in relativ kurzer Zeit erreicht. Die erste Eisenbahn in Russland erschien 1837, aber der Boom des Eisenbahnbaus kam ein paar Jahrzehnte später, nachdem 1865 das Transportministerium gegründet wurde. Der Akzent wurde darauf gelegt, Moskau mit Rohstoff- und grundlegenden Lebensmitteln wie Brot aus den Regionen mit Häfen zu verbinden. In den frühen 1870er Jahren wurde Russland dann endgültig vom Eisenbahnfieber erfasst, Investitionen in den Eisenbahnbau waren äußerst attraktiv.

Im späten 19. Jahrhundert wurde mit dem Bau der berühmten Transsibirischen Eisenbahn begonnen. Die Straße verbindet den europäischen Teil Russlands mit dem Ural-Gebiet, Sibirien und dem Fernen Osten und ist für Russland von riesiger strategischer Bedeutung – natürlich auch für den Lebensmittelprodukt. Sie erstreckt sich über 9000 Kilometer und ist die längste Eisenbahn der Welt. Inzwischen sind die russischen Eisenbahnen nach den USA die zweitlängsten der Welt.

Ein halber Sieg

Jenes weit entwickelte Eisenbahnnetz war nun auch einer der Gründe, warum die Trucker-Proteste das Land nicht lahmlegen konnten. Schon nach dem Streik 2015 wurde ein der Teil der Güter auf die Schiene verlagert. Nicht alle wechselten später wieder zum Lkw, als die Eisenbahnen ihre Tarife erhöhten.

Die Protestierenden schafften es jedoch teilweise, ihr Ziel zu erreichen: Die Regierung senkte vorübergehend die geplante Maut und konnte so zur Beruhigung der Krise beitragen.

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