Blickt man sich um, stellt man nicht nur fest, dass es den anderen genauso geht, sondern auch, dass die Russen ihre Zigaretten äußerst gerne mit anderen teilen.
An diesem Punkt beginnt man vermutlich, sich etwas geizig zu fühlen und kämpft mit den Gedanken: „Nur weil er oder sie großzügig ist, muss ich es nicht sein. Ich habe hart für diese Zigaretten gearbeitet.“
Das ist nur natürlich. Schließlich werden um Zigaretten bittende Leute in der nicht russischen Welt oft sozial geächtet. Ihre Bitte um eine kostenlose Zigarette wird häufig mit einem Schnauben und einem Kopfschütteln abgetan und sie selbst sowohl online als auch offline als „furchtbare, hinterhältige Schnorrer“ verurteilt (eng).
Für die Russen ist das „Schnorren“, wenn es um Zigaretten geht, jedoch völlig normal. Sie haben sogar einen speziellen Ausdruck dafür: „стрелять сигареты“ heißt wörtlich übersetzt „um Zigaretten schießen“ und lässt sich sinngemäß mit „jemanden um Zigaretten anpumpen“ wiedergegeben.
Der nächste Schritt für einen Ausländer liegt also darin, Russlands „Nikotinaltruismus“ zu akzeptieren. Schließlich könnte man selbst das nächste Mal in Russland der Empfänger dieser Großzügigkeit sein.
Im August letzten Jahres hat der Soziologe Wiktor Wachstein das russische Forum „TheQuestion.ru“ besucht, um zu erklären, warum es in Russland gesellschaftlich akzeptiert wird, Zigaretten zu „schnorren“, aber nicht, nach einem Kaugummi zu fragen. Die Antwort? Es ist die Macht der Gewohnheit und die Leute sind beleidigt oder verärgert, wenn man der Bitte nicht nachkommt.
„Für jemanden, der eine ganze Packung kauft, ist eine Zigarette ein akzeptabler Preis, um sich aus einer potenziell unangenehmen Situation herauszuwinden. Daher wird der ‚Verlust‘ einer Zigarette nicht als besonders tragisch angesehen“, schreibt (rus) Wachstein.
David Woodburn, ein Englischlehrer aus Neuseeland, der in Moskau lebt, bestätigt Wachsteins Aussage und meint, dass die Russen so daran gewöhnt wären, vom Gegenüber eine Zigarette zu bekommen, dass sie schockiert sind, wenn sie es nicht tun.
„Ich denke, dass gilt hier als allgemein höfliches Verhalten“, sagt er. „Ich habe immer mit ‚nein‘ geantwortet, als mich jemand um eine Zigarette gebeten hat, doch das schien die Leute zu beleidigen, sodass sie begannen, nach einer Erklärung für mein Verhalten zu fragen. Man braucht also eine plausible Ausrede, wie ‚tut mir leid, ich rauche nicht‘, wenn man seine Zigaretten nicht teilen möchte. Die beste Antwort, die man geben kann, ist ‚tut mir leid, ich habe nur noch eine‘, weil einem niemand die letzte Zigarette wegnehmen möchte.“
Der offensichtlichste Grund für die Bereitschaft der Russen, ein paar von ihren Zigaretten abzugeben, ist die Tatsache, dass Zigaretten in Russland relativ günstig sind. Obwohl die Preise durch das „Anti-Raucher-Gesetz“ seit dem Jahr 2013 stetig steigen, kostet eine Zigarettenpackung weiterhin nur 90 Rubel, also etwa 1,30 Euro. Vergleicht man diese Summe mit den knapp sieben Euro, die eine Schachtel in Frankreich kostet oder mit zehn beziehungsweise elf Euro, die man in Großbritannien oder New York dafür bezahlt, lässt sich leicht nachvollziehen, warum sich Ausländer weniger großzügig verhalten.
Für Daniel Chalyan war es ein kleiner Kulturschock, als er bei seiner Auslandsreise über den Preis von Zigaretten nachdenken musste.
„Als ich nach England kam, fragte mich ein Mädchen, ob sie von mir eine Zigarette kaufen könnte“, sagt er. „Ich fragte sie, warum sie mir Geld dafür anbieten würde, und sie antwortete in ihrer typisch britischen Art, dass das in Großbritannien als gutes Benehmen gelten würde.“
Ebenso sollte erwähnt werden, dass die Verbreitung und der Einfluss der Raucherkultur den Grundstein für die sorglose und großzügige Einstellung der Russen gegenüber dem Teilen von Zigaretten gelegt haben. Nicht umsonst nahm Russland im Jahr 2016 den neunten Platz des Pro-Kopf-Tabakkonsums in der Welt ein. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass man ständig „um eine Zigarette angeschossen“ wird.
Auch wenn seit dem verabschiedeten Anti-Raucher-Gesetz alle öffentlichen Plätze in Russland als rauchfreie Zonen gelten, ist das Rauchen auf der Straße immer noch üblich und die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man auf jemanden trifft, der seine Zigaretten mit einem teilt, wenn man eine braucht.
In den Vereinigten Staaten hingegen ist, sehr zur Überraschung eines russischen Bloggers (rus), das Gegenteil der Fall: „Es gibt in Los Angeles zwar Leute auf der Straße, die rauchen, aber es ist ein seltener Anblick. Lediglich ab und an trifft man auf jemanden, der sich mit einer Zigarette auf einem verlassenen Bürgersteig unter einem Baum versteckt...“.
Auch wenn die meisten Russen gerne teilen, sollte man es nicht übertreiben – mit den steigenden Tabakpreisen in Russland scheint es nicht jedem bewusst zu sein, wenn sie die Großzügigkeit eines Fremden strapazieren.
In einem russischen Forum konnte man beispielsweise den Post eines verwirrten Rauchers lesen, der sich über einen gierigen Kollegen beschwerte: „Ich bin an sich kein geiziger Mensch, aber er hat nie eigene Zigaretten dabei und raucht jeden Tag ein Drittel meiner Packung.“
„Es ist ganz einfach: Gib ihm keine Zigaretten mehr“, lautete die Antwort darauf. „Wenn du ein Drittel meiner Packung rauchen würdest, hätte ich auch die Nase voll von dir und würde dir sagen, dass du dir deine eigenen Zigaretten kaufen sollst…“.
Man sollte also, ob als Ausländer oder Russe, einfach seine Grenzen kennen.
(Oder einfach gar nicht rauchen und seine Mutter stolz machen.)
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