Russlands gefährlichste Sekten: Aussteiger sprechen über ihre Erfahrungen

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NIKOLAJ SCHEWTSCHENKO
Die Anziehungskraft der zahlreichen Sekten in Russland ist groß, die Mitgliedschaft aber gefährlich. Russia Beyond hat für Sie mit Aussteigern gesprochen.

„Ich war neun Jahre alt. Eines Tages kam meine Mutter nach Hause und sagte mir, sie wäre an einem wunderbaren Ort gewesen. Bald fanden bei uns regelmäßig Zusammenkünfte statt.“ Mit dreißig Jahren versucht Jana Losowski noch heute die Entscheidung ihrer Mutter zu verarbeiten, ihr Kind freiwillig zu einer religiösen Sekte zu bringen.

Zunächst freute sich die Neunjährige über die plötzliche Veränderung. „Es war spannend für mich, zu glauben. Ich bat, an einem Jugendkongress der Sekte teilnehmen zu dürfen. Wir lernten Bibelverse auswendig und gewannen Preise. Die Sekte hieß ‚Die Kirche der Erneuerung‘“, sagt Losowski. Als sie älter wurde, beschlichen sie Zweifel, die schließlich die Beziehung zu ihrer Mutter belasteten.

„Sie sagten immer, ihrer sei der einzige rechte Glaube und dass es nötig sei, sich vollkommen Gott zu widmen. Alles andere sei sündhaft“, so Losowski.

Als sie 15 Jahre alt wurde, erkannte Losowski, wie ernst die Dinge standen. In diesem Jahr verliebte sie sich zum ersten Mal. Ihr neuer Freund war kein Mitglied des Kultes, was den fanatischen Führungskreis aufbrachte. Sogar harmloser „Unfug“ des Mädchens machte die Mitglieder der Sekte wutentbrannt, ihre Mutter eingeschlossen.

Seine Liebe zum Gesang machte aus dem Mädchen in den Augen der Fanatiker eine heillose Sünderin. Sie übten großen psychologischen Druck aus, um ihren Gehorsam zu gewährleisten. Der Gedanke, sie könnte mit einem Außenseiter zusammen sein, erschien wahnsinnig. Einige Zeit blieb das Mädchen noch bei ihrer Mutter, doch bald wurden deren harte Zurechtweisungen unerträglich und Losowski lief von zu Hause weg.

Sekten in Russland

In Russland existieren Tausende kleine Sekten, da religiöse Freiheit durch die Verfassung geschützt ist. Oftmals sind zerstörerische Sekten schwer ausfindig zu machen und zu bekämpfen, da sie aufgrund der geringen Mitgliederzahl und ihrer Geheimhaltung nicht auffallen.

Experten unterscheiden gewöhnlich zwischen einigen breiten religiösen Bewegungen, die sie als schädlich einstufen, und totalitären Sekten. Diese arbeiten in Russland in größerem Maßstab und dürften auch außerhalb des Landes bekannt sein: Zeugen Jehovas, Scientology und die Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein. Es gibt jedoch andere Sekten, deren Charakter schwer fassbar ist. Die Einordnung solcher Gruppen ist besonders schwierig.

Das Justizministerium gewann jedoch im April 2017 einen Gerichtsprozess mit dem Ergebnis, dass die Zeugen Jehovas als extremistische Organisation eingestuft wurden. Seitdem sind ihre Aktivitäten in Russland verboten. Andere Sekten aber sind so schwer zu greifen, dass es dem Staat beinahe unmöglich ist, die Menschen vor ihnen zu schützen. Nicht religiöse Kulte sind Pioniere auf diesem Gebiet: Teilnehmer können sich kaum mehr sicher sein, ob sie einer Motivationsübung oder der Versammlung einer Sekte beiwohnen.

„Zwei meiner Freunde sind Feuer und Flamme für die Lehren Oleg Torsunows, einem selbsternannten Experten für Familienpsychologie und Persönlichkeitsentwicklung. Sie glauben nicht, dass es sich um einen Kult handelt, aber ich bin mir sicher“, sagt Olga Jerschowa aus Moskau.

Torsunows Vorträge erinnern tatsächlich an Zusammenkünfte von Sekten: in einem halb gefüllten Raum lauschen Frauen still den schlecht artikulierten mündlichen Improvisationen eines mittelmäßigen Mannes auf der Bühne. Übertragungen der Vorträge sind kostenlos im Internet verfügbar. Hinter der Fassade der Persönlichkeitsentwicklung steckt eine ganze Industrie, die – von Büchern bis hin zu Zucker – alles vertreibt.

Für den Zustrom von Kunden sorgen Torsunows Vorträge: der Mann nennt sich einen Naturwissenschaftler, interessiert sich aber in verdächtigem Ausmaß für Astrologie, Karma und Wiedergeburt.

„Psychologische Übungsstunden – Seminare über persönliches Wachstum, wie man einen reichen Mann findet, wie man reich wird und mehr – können als zerstörerische Kulte eingestuft werden. In derartigen Gruppen gibt es einen Guru, eine bestimmte Hierarchie und alle anderen Anzeichen totalitärer Sekten“, sagt Psychologin Tatjana Kudeijarowa.

Bombardierung mit Zuneigung

„Niemand wirbt offen Mitglieder an. Sie laden Menschen zu Vorträgen über Selbstfindung und Psychologie oder zu indischen Kulturfesten ein. Ihre Werbungsmethoden sind sehr subtil und ausgefeilt, sie tun es nie offenkundig“, sagt Mark Marzinkowski, der in Moskau lebt und mit 24 Jahren von der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein angeworben wurde. Er verbrachte fünf Jahre in der Sekte.

Experten warnen vor dem Charme der Sektenanhänger, die stets sehr einladend gegenüber Neulingen sind. Besondere Einfühlsamkeit zeigen sie gegenüber leicht angreifbaren Personen, die sich normalerweise nach Akzeptanz sehnen. Spezialisten nennen das „love bombing“ (zu Deutsch „Bombardierung mit Zuneigung“) – eine Methode, bei der der Ausführende einer anderen Person zu Beginn extrem große Zuneigung zeigt und so versucht, Einfluss über sie zu gewinnen.

Alles ändert sich, wenn die erste Euphorie nachlässt. „Sie werden gezwungen, jeden Tag zwei Stunden lang ein Mantra zu wiederholen. Sie zwingen Sie nicht körperlich, doch wenn Ihre Weltanschauung grundlegend verändert ist, haben sie Angst, den Guru durch Ungehorsam zu kränken“, sagt Marzinkowski. Die Widerwärtigkeit einiger Rituale zeigt, dass Anhänger des Kultes die Fähigkeit verlieren, vernünftig zu denken. „Der Guru wäscht seine Füße in Milch und seine Schüler, die in den Tempel kommen, müssen sie trinken. Sie nennen sie Nektar“, sagt Marzinkowski.

Die, denen die Flucht gelang, sprechen erleichtert darüber; besonders, wenn sie sich ohne ernsthafte finanzielle oder psychologische Schäden befreien konnten. Andere jedoch, deren Familien aufgrund des Irrglaubens für immer zerbrachen, sind weniger begeistert. Auf die Frage, ob sie jemals versucht hätte, ihre Mutter aus dem Griff der Sekte zu befreien, antwortet Losowski: „Nein, ich wollte nur noch weg.“

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