Vergessen in der Taiga: Wie die sowjetische Einsiedlerfamilie Lykow landesweite Berühmtheit erlang

Ilja Pitalew/Sputnik
Vom sowjetischen Geheimdienst verfolgt, musste die Altgläubigen-Familie Lykow sich über Jahrzehnte im Wald verstecken.

Als sowjetische Geologen vor 40 Jahren mit dem Hubschrauber die abgelegenen Weiten der Taiga überflogen, entdeckten sie in einer vollkommen unbewohnten Gegend am Oberlauf des Flusses Abakan einen Gemüsegarten. Es stellte sich heraus, dass dort im Wald eine Familie Altgläubiger wohnt. Die Lykows – der Vater und dessen vier erwachsene Kinder – waren jahrelang von der Zivilisation getrennt. Durch einen Zeitungsartikel wurden sie in der landesweit berühmt.

Karp Ossipowitsch Lykow mit seinen Familienangehörigen

1982 begab sich der Journalist der Zeitung "Komsomolskaja Prawda" Wassilij Peskow auf den Weg zu der Einsiedlerfamilie. Er erwartete, die fünf Familienmitglieder anzutreffen, fand aber nur noch den Vater Karp Ossipowitsch und dessen Tochter Agafja vor. Die Mutter Akulina war bereits 1961, als ein harter Winter nahezu die ganze Ernte vernichtet hatte, an Auszehrung gestorben. Später erlagen zwei Brüder und die Schwester verschiedenen Krankheiten. 1988 fand dann Vater Karp seine letzte Ruhe und im Wald blieb nur noch Agafja zurück, die ihrem Leben eine Wendung nicht geben wollte.

Kreuz auf dem Grab von Karp Ossipowitsch Lykow

Peskow wurde bezichtigt, den Tod der Lykows durch den Kontakt mit der Außenwelt verschuldet zu haben. Der Journalist litt sehr unter diesen Anschuldigungen, hatte er doch mit aller Kraft versucht, die Familie vor Neugierigen abzuschirmen. Mehrere Jahre lang besuchte er die Lykows – unterstützte sie, versorgte sie mit Küchenutensilien, Medikamenten und sogar mit einer Ziege, damit die Einsiedlerfamilie immer frische Milch hatte.

Bei einem der letzten Begegnungen mit Agafja fragte der inzwischen verstorbene Peskow diese, ob es denn gut gewesen sei, dass ihre Familie „gefunden“ wurde. Agafja sagte ihm, dass sie glaube, das Gott ihnen die Menschen geschickt habe. Wären diese Menschen nicht gewesen, wäre die Familie viel früher gestorben.

Agafja Lykowa und Journalist Wassilij Peskow, 2004

„Was war das schon für ein Leben? Wir liefen in Lumpen herum und ernährten uns von Gras und Wurzeln”, wird Agafja von der Komsomolskaja Prawda zitiert (rus).

Wie die Wald-Robinsons berühmt wurden

Nach den Begegnungen mit den Lykows schrieb Peskow eine Reihe Reportagen. Das Schicksal der Einsiedlerfamilie berührte viele Leser: Jedes Mal, wenn eine Fortsetzung der Reportage erschien, standen die Leute am Zeitungskiosk Schlange.

„Die Vergessenen der Taiga“ in der Komsomolskaja-Prawda-Zeitung

Der Journalist erzählte Freunden, dass Breschnjews Ehefrau jedes Mal extra jemanden frühmorgens zum Kiosk schickte, um schnellstmöglich die Komsomolskaja Prawda zu kaufen – sie konnte es kaum erwarten, mehr über die sibirische Einsiedlerfamilie zu erfahren. Später wurden die Reportagen Peskows unter dem Titel „Die Vergessenen der Taiga“ als Buch herausgegeben.

Warum die Lykows in den Wald zogen

Überall in der Sowjetunion gab es Menschen, die sich aus religiösen Gründen verstecken mussten. Die Altgläubigen waren bereits im zaristischen Russland Verfolgungen ausgesetzt, erst Nikolai II. ließ sie verbieten. Doch nach der Revolution setzten die Sowjetbehörden diese Praxis fort – sie zwangen die Altgläubigen in die Kolchosen einzutreten und sperrten sie anderenfalls ins Gefängnis.

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Vor der Kollektivierung floh die Familie Lykow immer tiefer in den Wald und ließ sich auf dem Gebiet eines Naturschutzparks nieder. In den Dreißigerjahren untersagte ihr die Leitung des Reservats jedoch das Jagen und Fischen.

Irgendwann dann erfolgte eine anonyme Anzeige – die Altgläubigen seien Wilderer. Die Ranger gingen dem Vorwurf nach und erschossen aus Versehen Karp Lykows Bruder. Die Ermittlungsbehörden stellten den Vorgang jedoch so dar, als ob die Familie bewaffneten Widerstand geleistet hätte.

Gehöft von der Familie Lykow im Chakassischen Naturreservat

1937, im Jahr des Großen Terrors, wurden die Lykows von Geheimdienstleuten aufgesucht und ausführlich zu dem Vorfall befragt. Die Familie erkannte, dass es für sie sicherer wäre, zu fliehen. Von da an zogen sie immer tiefer und tiefer in die Taiga und verwischten ihre Spuren.

Agafjas Stern

Agafja ist inzwischen 74 Jahre alt, seit 30 Jahren wohnt sie ganz alleine im Wald. Das einzige Mal, dass Agafja sich unter die Menschen wagte, war 1990. Sie ging in ein Kloster der Altgläubigen, das das Priestertum ablehnt, und war sogar Novizin. Aber ihr Glaube unterschied sich, und sie kehrte in ihre Siedelei zurück. 2011 dann besuchten Vertreter der russischen Altgläubigen Kirche Agafja und tauften sie nach dem offiziellen Ritual.

Die lokalen Behörden unterstützen Agafja. Der damalige Gouverneur des Gebietes Kemerowo Aman Tulejew ordnete an, der Eremitin jede nur mögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Das Interesse an der einsamen Frau wächst von Jahr zu Jahr. Sie wird von Filmteams, Journalisten, Ärzten und Volontären besucht.

Die Zurückgezogenheit empfindet Agafja als besten Weg zur Rettung der Seele. Dabei hält sie sich überhaupt nicht für einsam. „Jedem Christen steht sein Schutzengel bei, sowie Jesus und die Apostel“, glaubt die Eremitin.

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