Wie ist es um die russische Pilzleidenschaft bestellt?

Natalja Nosowa
Nicht viele Menschen im Westen schlagen sich gerne den Magen mit köstlichen Waldpilzen voll. Aber die Russen vergöttern Pilze und sind besessen davon, sie selbst zu sammeln und dafür oft stundenlang den Wald zu durchpirschen. Diese „Jagd“ ist ein echter russischer Nationalsport.

„Fast nirgendwo sonst auf der Welt werden so viele Pilze gesammelt, aus Angst vor einer Verwechslung und der damit verbundenen Vergiftung. Nur in Russland ist dieser „Pilzsport“ so beliebt“, schrieb der zeitgenössische Schriftsteller Dmitrij Bykow. „Sogar russische Denkmäler sehen so aus, als würden die Dargestellten nach Pilzen suchen! Nehmen wir Juri Dolgoruki [der Gründer Moskaus]: „Hier ist einer!“, ruft er freudig und zeigt auf einen imaginären Steinpilz, scherzt Bykow.

Denkmal für Juri Dolgoruki in Moskau

Gefährliches Spiel

Wenn Sie zwischen April und Oktober in Russland weilen (also zur Pilzsaison) und einen freien Tag haben, dann können Sie sich als echter russischer Pilzsammler versuchen: Raus aus der Großstadt, rein in den Wald und diese köstlichen Pilze suchen.

Aber seien Sie vorsichtig – Pilze ohne die nötigen Vorkenntnisse zu sammeln, ist so gefährlich wie die Jagd auf Bären. Okay, vielleicht nicht ganz so gefährlich. Aber im Ernst – in beiden Fällen kann man sterben. In Russland gibt es etwa 30 Arten von Giftpilzen, die Ihrer Gesundheit ernsthaften Schaden zufügen können. Am gefährlichsten ist der Grüne Knollenblätterpilz – schon ein kleines Stück dieses Pilzes reicht aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten.

Viele Russen kennen sich trotz ihrer Liebe zum Pilzesammeln überraschend schlecht darin aus, genießbare Pilze von giftigen zu unterscheiden, gesteht Michail Wischnjewskij ein. „Leider lieben unsere Leute es, alle möglichen Pilze zu sammeln, aber sie haben auf diesem Gebiet überhaupt keine besondere Kultur – sie müssen alles in den Mund nehmen.“

Wenn Sie also auf die Pilzjagd gehen, nehmen Sie einen Gribnik mit. Das ist ein Fachkundiger mit viel Erfahrung, der leicht Köstliches von Gefährlichem unterscheiden kann.

Kochen oder...?

Akhil Sharma war enttäuscht darüber, wie Russen die Pilze zubereiteten, die er im Moskau Umland gesammelt hatte: „Sie waren schrecklich überkocht“. Pilze kochen, braten oder einlegen, das ist eine russische Tradition, und nicht jeder aus dem Westen kann das verstehen.

„Wenn du solch edle Pilze hast, solltest du sie roh in einem Salat servieren oder sie vielleicht leicht anbraten. Alles andere wäre Verschwendung, erklärt der Küchenchef Andrea Accordi der New York Times und kritisierte die russischen Köche für ihr „gewalttätiges“ Vorgehen gegenüber Pfifferlingen und Steinpilzen.

Die Art und Weise, wie wir unsere Pilze kochen, hat jedoch ihre Wurzeln in der Geschichte – zu Zeiten von Hunger und Krisen war das Sammeln von Pilzen eine Möglichkeit, kostenlos an Nahrung zu kommen – auch wenn es nicht immer Pfifferlinge und Steinpilze waren.

„Wenn Sie einige unserer Bitterpilze so zubereiten wie die Europäer – blanchieren und mit Öl anrichten, bekommen Sie beim Essen Blasen auf der Zunge“, erklärt Michail Wischnjewskij.

Heilige Mission

Im modernen Russland geht es beim Pilzsammeln nicht darum, Nahrung zum Überleben zu finden. Normalerweise ist es eine Art Meditation, eine Möglichkeit, sich zu beruhigen, sich von der verrückten Welt zu lösen, in der wir leben, und die Wälder zu durchstreifen, um eine Weile in die Natur einzutauchen.

„Der Pilz ist wie ein Magnet – es scheint eine unsichtbare und mysteriöse Verbindung zwischen ihm und dem Jäger zu geben... es ist nicht einmal eine Jagd, es ist ein Versteckspiel ohne Gewinner oder Verlierer, ohne Opfer, schrieb der russische Schriftsteller Alexander Genis und fügte hinzu, dass diese Art der Freizeitgestaltung für viele Russen die effektivste Form der Meditation sei.

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