Ihre Eltern brachten Tamara im Alter von sechs Jahren in ein Heim. Seitdem hat sie immer in Pflegeeinrichtungen gelebt. In einem Umfeld, das in keiner Weise märchenhaft war, begann sie, Märchen zu schreiben.
Zuerst wurde sie wegen ihrer kreativen Ambitionen vom Pflegepersonal ausgelacht. Sie war nicht in der Lage, einen Stift zu halten, so dass ihre Mitbewohner die von ihr diktierten Geschichten und Märchen zu Papier brachten.
Gegen alle Widerstände
Tamara wurde am 6. Dezember 1955 geboren. Kürzlich feierte sie ihren 63. Geburtstag. Kurz nach ihrer Geburt wurde bei ihr eine Zerebralparese diagnostiziert. Als Tamara sechs Jahre alt war, gaben ihre Eltern sie in ein Pflegeheim. Dort wurde sie, ohne weitere Untersuchungen, von den Ärzten als „geistig behindert“ eingestuft. Daher wurde sie ab ihrem 18. Lebensjahr in einer psychiatrisch-neurologischen Einrichtung untergebracht, also in einer Nervenheilanstalt.
Die ehemalige Lehrerin Anna Sutjagina arbeitete seit 1963 in dieser Einrichtung und unterrichtete die Kinder dort. Sie brachte ihnen das Alphabet und das Lesen bei und las ihnen klassische Literatur vor. „Es war Literatur, die mir später helfen sollte, zurechtzukommen, nicht aufzugeben und meine Menschenwürde nicht zu verlieren. Bücher haben meinem Leben einen Sinn gegeben“, schreibt Tamara. Übrigens lernte sie durch Seitenzahlen bis 100 und darüber hinaus zu zählen.
Tamara beschreibt in ihrer Autobiografie „Gras und Asphaltproben“ schreckliche Momente aus ihrem Leben. Wie sie als kleines Mädchen im Heim zurückgelassen wurde, wie sie vom Personal manchmal grausam misshandelt wurde, wie sie nur zu bestimmten Zeiten zur Toilette gehen durfte, wie einsam sie sich fühlte und wie hungrig sie manchmal war.
Ihre Eltern besuchten sie gelegentlich, doch regten diese Besuche Tamara nur auf, weil ihre Eltern sie nicht wieder mit nach Hause nahmen. Als sie erwachsen wurde, wurde ihr klar, wie schwer es für ihre Eltern war. In der Sowjetunion war die Diagnose Zerebralparese gleichbedeutend mit einer Gefängnisstrafe: Menschen mit Behinderungen galten als Menschen zweiter Klasse, die niemals ein normales Leben führen konnten.
Dennoch ist Tamara überzeugt, dass sie als kleines Mädchen mehr Fortschritte hätte erzielen können, wenn ihre Eltern sich mehr Mühe gegeben hätten. Wenn sie sie massiert oder einfach aus dem Bett genommen und auf den Boden gelegt hätten. Im Pflegeheim lernte Tamara, sich selbst hinzusetzen.
„Sie mussten nur die falsche Scham überwinden, dass ihr Kind nicht wie andere Kinder war und mehr Pflege und medizinische Betreuung benötigte“, schreibt Tamara in ihrem autobiographischen Essay „Wie ich mich selbst erzog“ (rus).
Dann entschloss sie sich, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und schrieb einen Brief an den Akademiker Jewgenij Tschatsow, dem sie ihre Lebensgeschichte erzählte. Und es geschah ein Wunder: Ihre Krankengeschichte wurde überprüft und die Diagnose erwies sich als Fehleinschätzung. Von der psychiatrischen Anstalt wurde Tamara in ein normales Pflegeheim verlegt. „Es ist keine Kurklinik und kein Zuhause, aber immer noch besser als eine Irrenanstalt“, sagt Tamara.
"Geschichtenerzählerin von Sibirien"
Im Jahr 1990 wurde Tamaras erstes Kinderbuch „Aus dem Leben des Zauberers Mischuta“ von einem Verlag in Kemerowo veröffentlicht. Von ihrem Honorar kaufte sie eine Schreibmaschine.
Im Jahr 2003 schrieb Tamara ein weiteres Buch „Von der rothaarigen Tajuschka“. Der Verlag bewunderte ihr Talent, lehnte die Veröffentlichung der Geschichte jedoch ab, weil sie für Kinder zu kompliziert und zu philosophisch sei. Doch dann half der Zufall. Die Moskauerin Olga Sajkina hatte eines von Tamaras Märchen im Internet entdeckt und Tamara in einem Brief gefragt, wo sie mehr von ihr lesen könne. Tamara schickte ihr den Entwurf von "Tajuschka“ und Olga gefiel die Geschichte sehr. Sie schlug Tamara vor, ihre Erzählungen online zu veröffentlichen. Tamara war begeistert, dass Olga Sajkina ihr nicht aus Mitleid half, sondern weil sie die Tiefe und Weisheit von Tamaras Märchen berührte.
Tamara tippt sehr langsam: Sie hat nur eine funktionsfähige Hand. Sie schreibt jedoch weiterhin Märchen, Essays für Erwachsene und korrespondiert über Social Media und E-Mail.
Tamara empfiehlt allen Menschen mit besonderen Bedürfnissen, ihren Traum zu finden und ihn zu verwirklichen. Was ihr ebenfalls half, war zu lernen, sich selbst zu lieben und sich selbst nicht als Mensch zweiter Klasse zu sehen.
Eine einsame berühmte Frau
Die Mitarbeiter des Pflegeheims in Nowokusnezk, in dem Tamara jetzt lebt, behandeln sie mit Respekt, während die anderen Bewohner ihr beim Schreiben helfen. Dennoch muss sie zwei Pflegerinnen beschäftigen, die ihr beim Essen und Ankleiden helfen und sie in den Rollstuhl setzen.
„Egal wie berühmt ich werde, ich werde für immer von meiner Behinderung verfolgt. Es ist ein Kreuz, das ich bis zum Ende meiner Tage tragen soll. Es ist so erniedrigend, in völliger physischer Abhängigkeit von anderen zu leben“, schreibt Tamara in ihrer Autobiografie.
Der Ruhm hat Tamaras Leben nicht geändert. Es gibt noch immer Tage, an denen sie sich traurig und einsam in ihrem Pflegeheim fühlt.
Tamara bekommt viel Post und Bewunderung von Menschen, die nicht behindert sind. „Es ist seltsam, aber gesunde Leute schreiben mir, dass meine Geschichte sie inspiriert und ihnen hilft, ihr Dasein zu überdenken und zu leben", sagt Tamara Russia Beyond.
Tamara möchte allen beweisen, dass auch Menschen wie sie im Leben viel erreichen können.
In ihrer Autobiografie wendet sich Tamara mit einem emotionalen Appell an ihre Leser. „Leute! Gesunde, normale, nicht behinderte, nicht beeinträchtigte Leute, die ihr in der Lage seid, mit eigenen Beinen zu gehen und die eigenen Hände zu benutzen: Atmet auf und freut euch, dass ihr diesen unglaublichen Schatz habt – die Fähigkeit sich unabhängig und kontrolliert zu bewegen. Betrachtet euch als glücklich, solange ihr von niemandem abhängig seid. Stimmt ihr mir etwa nicht zu, dass ein gesunder und fähiger Körper Glück bedeutet? Dann stimmt mir zumindest zu, dass er eine Grundlage darstellt für das Glücklichsein."