In ganz Russland gibt es etwa zwanzig sogenannte Biohacker. Diese sehen sich im Vorteil gegenüber Gleichgesinnten aus dem Ausland. „Normalerwiese benötigt man ein Rezept für Medikamente. In Russland aber ist nahezu jedes Mittel in der Drogerie erhältlich”, erklärt der Biohacker Denis.
Noch vor zwei Jahren war Denis eher eine Couch-Potatoe: Sport trieb er nicht, allenfalls ein wenig Jogging. Er war gesundheitlich angeschlagen und beruflich nicht sonderlich erfolgreich. Mittlerweile ist er Mitbegründer eines Biohacking-Labors im Moskauer Fitnessstudio „Atmosfera Private Fitness”, mit mehr als einem Dutzend Mitgliedern, die auf der „Forbes”-Liste stehen. Als Denis sein Selbstoptimierungsprogramm startete, brachte er schon nach sechs Monaten sein Fitness-Level auf das eines Leistungssportlers.
Wunderpille
Wir sitzen im Büro des Finanzchefs eines internationalen Outsourcing-Unternehmens. Sein Name ist Stanislaw Skakun, er ist 35 Jahre alt und ein Biohacker. Lediglich eine kleine Dose Taurin und einige andere Mittel auf seinem Schreibtisch verraten ihn. Ansonsten sieht es hier aus wie in jedem anderen Büro auch: ein Schreibtischsessel aus Leder, ein großer Bildschirm und ein aufgeräumter Tisch.
In den letzten drei Jahren hat sich dieser Mann konsequent digitalisiert. Täglich nimmt er 35 verschiedene Medikamente zu sich und liest vier Stunden lang wissenschaftliche Artikel. In einer riesigen Excel-Datei aktualisiert er regelmäßig 760 Körperindikatoren und rund 8 000 Biomarker (Hämoglobin, Cholesterol… alle Stoffe, die im menschlichen Körper enthalten sind). Was er macht, wird „Selbstvermessung” genannt. Für die Selbstvermesser ist der Körper eine biochemische Maschine, deren Leistung durch die Einnahme verschiedener Substanzen optimiert werden kann. Inzwischen hat Stanislaw 120 Selbstversuche mit unterschiedlichen Mitteln und Dosierungen ausprobiert.
„Ich habe zum Beispiel Metformin genommen, ein Medikament, das bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes zum Einsatz kommt”, berichtet Stanislaw während er seine Excel-Datei öffnet. Dabei leidet Stanislaw gar nicht an Diabetes. Doch viele Biohacker sind davon überzeugt, dass Metformin einen positiven Einfluss auf die Lebenserwartung hat. „Diabetiker, die Metformin einnehmen, leben im Schnitt sieben Jahre länger als gesunde Menschen, die es nicht nehmen. Das liefert Grund zur Annahme, dass Metformin ein Mittel gegen das Altern ist”, sagt Stanislaw. Ganz ungefährlich ist die Einnahme von Metformin jedoch nicht. Es wirkt gegen Diabetes, doch kann es möglicherweise dementielle Erkrankungen oder Parkinson auslösen. Das Medikament wirkt auf den Vitamin-B-Stoffwechsel, der wichtig ist für die Hirnfunktion.
Was kann man gegen dieses Risiko tun? Stanislaw hat in seinen Statistiken geforscht und nimmt nun Vitamine, um gegenzusteuern. Er glaubt zudem, dass er mit der Einnahme von Metformin auch sein Krebsrisiko reduzieren könne.
Er schätzt sein biologisches Alter auf 26 und ist sich sicher, dass er den Alterungsprozess aufhalten kann. Dennoch rät er mir, zu meiner Überraschung, kein Biohacker zu werden.
Risiken und Nebenwirkungen
Im April letzten Jahres berichteten Medien weltweit vom Tode des 28jährigen amerikanischen Biohackers Aaron Traywick. Er starb in einem Floatingbecken, einem mit stark salzhaltigem Wasser gefüllten Pool. Einen Monat zuvor spritzte sich Traywick öffentlich ein selbst hergestelltes Mittel gegen Herpes.
Biohacker Denis leugnet einen Zusammenhang: Traywicks Tod sei die Folge von Drogenkonsum. Er habe die Droge Ketamin eingenommen, bevor er ins Floatingbecken gestiegen sei. Dadurch sei er eingeschlafen, habe sich im Schlaf gedreht und sei so ertrunken. „Mit seinen Experimenten hatte das nichts zu tun”, ist Denis überzeugt.
Glücklicherweise gab es bislang keine Todesfälle unter russischen Biohackern. Vieleicht liegt es daran, dass sie vorsichtiger sind, sagt Stanislaw, und sich niemals selbst hergestellte Mittel spritzen würden. Sie schätzen wissenschaftliche Belege und die totale Kontrolle. Dennoch scheint Biohacking wie russisches Roulette.
5000 Jahre
„Viele glauben, Biohacker seien seltsame Typen, die andauernd Pillen einwerfen, an sich selbst herumschneiden und sich Geräte implantieren. Das ist totaler Unsinn”, empört sich Stanislaw. „90 Prozent der Zeit, die ich für mein Experiment aufwende, verbringe ich vor dem Computer”, stellt er klar.
Wissenschaftlern ist es bereits gelungen, die Lebenserwartung von Mäusen im Labor zu verdoppeln. Biohacker glauben, dass es noch in diesem Jahrhundert möglich sein wird, die genetisch festgelegte Höchstgrenze der Lebenserwartung von 120 Jahren zu überwinden. Ich frage Stanislaw, wie viele Jahre er dafür noch braucht. „Das spielt keine Rolle”, antwortet er. „Ich lebe im Hier und Jetzt, das ist mir wichtig. Wenn ich eines Tages aufwache und feststelle, dass wir 5 000 Jahre weiter sind, ist mir das egal. Wir haben die Wahl, ob wir als Kämpfer sterben oder auf den Knien.”