„Sch*** auf das Wetter!“: Deswegen gibt es in Russland so wenig Smalltalk

Alexander Kislow
Russen sind nicht davon begeistert, mit Fremden zu reden, wenn sie sie nicht gerade in einer Bar oder im Zug treffen. Doch selbst in diesen Situationen reden sie vorrangig über Persönliches und weniger über das Wetter.

Als ich ein paar Russen danach fragte, was sie von Smalltalk hielten, bekam ich Antworten wie „Ich persönlich hasse Smalltalk-Menschen – warum reden die überhaupt mit mir? Interessieren die sich wirklich für mich? Können die nicht im Internet nachgucken, wie das Wetter ist? Wollen die etwas von mir? Die sollen einfach weggehen oder direkt sagen, was sie wollen“ oder „Russen sehen keinen Sinn dahinter, über offensichtliche und banale Dinge zu reden. Für uns ist es einfach langweilig und nicht Teil unserer Kultur“.

Ein anderer Russe, mit dem ich mich unterhielt, sagte, dass die geografische Lage den Smalltalk beeinflussen würde. „Der Ort ist wichtig“, meinte er. “Ich glaube, dass es hauptsächlich um das Wetter geht. Man redet einfach nicht viel, wenn man acht Monate lang nur Schnee und Dunkelheit sieht. Wenn immer die Sonne scheint und der Wein kostenlos ist, kann man dagegen endlos reden“.

Der Fall schien klar, aber ich beschloss, es selbst auszuprobieren. Ich ging raus und versuchte, Smalltalk mit den Russen zu halten. In meiner Straße gibt es ein kleines Café, wo ich mir täglich meinen Morgenkaffee hole. Die Besitzer kennen und grüßen mich, wenn ich reinkomme mit „Hallo mein Freund!“ oder „Wie geht es dir?“. Eine Antwort erwarten sie aber nicht. Diesmal wandte ich mich, als ich auf meinen Kaffee wartete, an den Mann hinter dem Schalter und sagte auf Russisch: „Das Wetter heute ist nicht so berauschend, oder?“.

Er starrte mich an und sah über meine Schulter hinweg auf die verregneten und eisigen Straßen des Sankt Petersburger Frühjahrs. Dann sagte er: „Sch*** auf das Wetter“.

“Reden sie mit mir?”

Später versuchte ich es in einem anderen Café. Mein Freund Iwan saß mir gegenüber. Als die Frau hinter dem Schalter mir meinen Latte Macchiato gab, fragte ich sie: „Es wird ein schönes Wochenende. Irgendwelche Pläne?”

Sie ignorierte mich geflissentlich und ich sah Iwan an. „Redest du mit mir?“ fragte er.

„Nein, ich wollte mich einfach etwas mit der Frau an der Bar unterhalten“, antwortete ich.

“Aber du hast eine Freundin.“

„Was? Nein, nur Smalltalk, weißt du? Einfach über irgendwas völlig Nutzloses reden, um sich etwas zu unterhalten.“

Er dachte ein bisschen darüber nach und sagte mir auf dem Weg zurück in meine Wohnung. „Manchmal wünschte ich mir, es gäbe so etwas wie Smalltalk. Meine Freunde reden immer über so philosophische Dinge.“ Dann fügt er hinzu: „Manchmal passiert es aber doch. Neulich war ich in einem Laden und vergaß fast, ein Feuerzeug für meine Zigaretten zu kaufen. Ich erzählte der Frau hinter der Theke davon und sie erzählte mir, wie sie den ganzen Morgen nach einem Feuerzeug gesucht hat, aber partout kein funktionierendes fand. Ist das in Amerika so üblich?”

Ich antwortete: “Ja, vor allem in den Südstaaten. Wenn ich in einen Laden gehe, reden wir oft lange über das Wetter, die Nachrichten oder sowas“.

„Vielleicht ist es, damit sich einsame Menschen besser verstecken können. Wenn man die ganze Zeit redet, wer weiß dann, wer einsam ist?“ erwiderte Iwan.  

Große Themen

Wenn es Russen gibt, die Smalltalk mögen, habe ich sie noch nicht getroffen.

Auf der anderen Seite lieben Russen aber große und manchmal sehr persönliche Themen. Wenn man jemanden im Zug oder in einer Bar trifft, kann es passieren, dass es einem nach einigen Stunden so vorkommt, als wäre man eng miteinander befreundet.

Meine Suche nach Smalltalk trieb mich in die versiffte Puschkin-Bar, wo ich mir ein Bier bestellte. Neben dem Barkeeper und mir war nur ein weiterer Mann in dem Laden. Er stand am Tresen und schaute mich an. Als ich ihn (sein Name war übrigens Tim, wie ich viel später erfuhr) fragte, wie es ihm gehe, passierte etwas Interessantes.

Fünf Stunden später war ich auf der Geburtstagsparty von Tims bestem Freund in einer Art „Sowjet-Bar“. Ich wusste, dass Tims Vater General im sowjetischen Militär war und dass seine Familie deswegen sehr angesehen war. Ich wusste, dass Tim Shakespeare zitieren konnte und dass seine Eltern sich getrennt hatten, als er noch ein kleiner Junge war. Der Vater war inzwischen verstorben, mit seiner Mutter lebte Tim nach wie vor zusammen. Er sagte, sie würde mich bestimmt mögen und ich könne zum Abendessen kommen und übernachten. Erst danach erzählte er mir beiläufig, dass er Tim hieß.

Der Punkt ist, dass Smalltalk keine Art ist, sich zu unterhalten. Es ist wie unaufhörlich auf jemanden einzureden. Es gibt keine Tiefe und keinen Sinn dahinter, im Grunde ist es langweilig. Und wenn Russen eines nicht sind, dann ist es langweilig.

Tim und ich gingen nach Hause und er erzählte mir gerade von seiner Zeit in New York, als eine ältere Frau vorbeikam.

„Mama!” rief Tim und sagte zu mir: „Das ist meine Mutter“.

Die Frau schaute mich an und griff nach Tims Jacke. „Wie kannst du nur so rumlaufen bei der Kälte? Und du bist betrunken”, sagte sie zu ihm, griff nach seinem Schal und zog ihn fester. Tim gab ihr Recht. Wenig später übergab er sich im Schnee.

Ich sah seine Mutter an, sie sah mich an. Ich fühlte mich merkwürdig und versuchte, das Thema zu wechseln. „Das Wetter heute ist nicht so berauschend, oder?”

Sie sah mich an und sagte: „Sch*** auf das Wetter“.

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