Warum gibt es in Russland so viele Verkehrsunfälle?

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Jedes Jahr sterben tausende Russen bei Verkehrsunfällen. Noch mehr werden verletzt. Wer ist schuld? Und welche Lösungsvorschläge gibt es?

Jeden Tag sterben etwa 50 Menschen auf Russlands Straßen. Darunter Autofahrer und ihre Beifahrer, Radfahrer, Fußgänger und Kinder. Die Regierung hat die Tragweite des Problems erkannt und versucht seit Jahren, Maßnahmen zu treffen, um die Verkehrssicherheit zu verbessern. Bisher ohne sichtbaren Erfolg. Der Staatlichen Inspektion für Verkehrssicherheit zufolge gab es im Jahr 2018 18.214 Tote im Straßenverkehr. 214.853 Menschen wurden verletzt. Im Jahr zuvor waren die Zahlen mit 19.088 Toten und 215.374 Verletzen noch höher. Manch einer glaubt, dass es keine Chance gibt, etwas zu verbessern. Aber stimmt das wirklich?

Ist die russische Mentalität schuld?

Viele Russen glauben, dass verantwortungsloses Fahren Teil der russischen Mentalität ist und dass Ausländer aus irgendeinem Grund sicherer fahren. Das sei jedoch falsch, sagt Alexander Schumski. Er ist der Leiter des Projekts Probok.net, das sich für ein besseres Verkehrssystem in Russland einsetzt.

So etwas wie einen „National-Fahrstil“ gäbe es laut Schumski nicht. Stattdessen sei der in einem Land vorherrschende Fahrstil das Ergebnis von Gewohnheiten, die durch die Qualität der Infrastruktur, das Verkehrsmanagement und die allgemeine Mentalität geprägt werden.

„Wenn Russen beispielsweise in einem deutschen Umfeld fahren, halten sie sich eher an die Verkehrsregeln. Das liegt nicht an den hohen Strafen, sondern an der umgebenden Kultur“, erklärt Schumski. „Dasselbe gilt auch andersherum. Wenn wir einen Deutschen in Russland fahren lassen, wird er nach kurzer Zeit so fahren wie die Russen, weil das Umfeld ihn mehr oder weniger dazu drängt.“

Was ist also das Problem?

Der Schlüsselfaktor für die hohe Unfallquote in Russland sei das veraltete Verkehrsmanagement, behauptet Schumski. Im Falle eines Unfalls sind die beteiligten Fahrer zum Beispiel dazu verpflichtet, mit ihren Fahrzeugen genau dort zu bleiben, wo der Unfall geschehen ist. Ziel dieser Regelung ist, dass die Polizei den Unfallhergang und die Folgen genau nachvollziehen kann. Andererseits führt das aber dazu, dass Autos auf der Straße oder der Autobahn stehenbleiben, wodurch es zu noch mehr Unfällen kommt.

Zu Sowjetzeiten, als der Verkehr noch deutlich weniger war, mögen diese Regeln sogar sinnvoll gewesen sein. Heute sind sie jedoch nicht mehr nützlich.

Ein weiteres Problem ist, dass man neue Maßnahmen oft nicht richtig angeht. So wurden kürzlich hunderte von Kameras auf Russlands Straßen installiert. Sowohl staatliche Kameras als auch solche in Privatbesitz hielten die Nummernschilder von Geschwindigkeitssündern fest. Sie erzielten jedoch keinen Erfolg: Die Fahrer zahlten zwar das Bußgeld, fuhren aber weiterhin zu schnell. Währenddessen bekamen die Kamerabesitzer einen Anteil an jeder gezahlten Strafe.

Ganz ähnlich verhält es sich, wenn neue Fußgängerüberwege eingeführt werden. Auf den ersten Blick helfen sie zwar, die Verkehrssicherheit zu verbessern, oft orientieren sie sich aber nicht an den Wegen der Menschen und sie entstehen dort, wo niemand sie braucht. Dadurch kommt es zu Unfällen, an Stellen, an denen Autofahrer nicht damit rechnen, dass ein Fußgänger die Straße kreuzt, zum Beispiel 200 Meter vor einem ausgeschilderten Fußgängerüberweg.

Schließlich zeigen Studien, dass die hohe Anzahl an Verkehrsschildern die Sicherheit ebenfalls negativ beeinflusst. Viele, zudem oft sehr kleinformatige Schilder führen dazu, dass die Fahrer auf die Schilder statt auf die Straße gucken. Auf dieser Straße in der Stadt Nischnije Sergi (Region Swerdlowsk) gibt es zum Beispiel über 40 Straßenschilder auf einer Strecke von rund einem Kilometer. Trotzdem kreuzen Fußgänger die Straße dort, wo es ihnen passt und ignorieren die ausgeschilderten Fußgängerüberwege.

Was muss sich ändern?

Die derzeitigen Regeln und Normen in Russland müssen so reformiert werden, dass Menschenleben an erster Stelle stehen. „Manche Länder haben eine Strategie namens „Toward Zero Deaths“ eingeführt, deren Ziel es ist, die Zahl der Verkehrstoten zu minimieren. Sie betrachten Verkehrstote nicht als etwas Unvermeidbares, sondern sehen jeden Unfall als Zeichen für eine fehlerhafte Infrastruktur. Menschen machen Fehler und das Ziel eines jeden Verkehrsingenieures ist es, die Folgen dieser Fehler so klein wie möglich zu halten“, sagt Schumski und fügt hinzu, dass das Verkehrsmanagement der russischen Behörden nicht reif fürs 21. Jahrhundert ist.

Manchmal müssen die Änderungen nicht mal besonders aufwendig sein. So könnte es zum Beispiel schon reichen, die Fahrspuren schmaler zu machen. Aktuell beträgt die durchschnittliche Breite einer Fahrspur 3,75 Meter. Das macht die Straßen autobahnähnlich. Radfahrer sind gezwungen zwischen den Autos zu fahren und Fußgänger müssen sich dicht an die angrenzenden Gebäude gedrängt fortbewegen. Probok.net zufolge, würde eine Reduzierung der durchschnittlichen Spurbreite auf drei Meter die Verkehrssicherheit deutlich verbessern.

Eine weitere Idee von Probok.net ist es, das Geschwindigkeitslimit in geschlossenen Ortschaften von momentan 60 km/h auf 50 km/h zu senken. Das würde die Anzahl der Verkehrstoten nachweislich senken. “Etwa ein Drittel der Fußgänger überlebt es, wenn sie von einem 60 km/h schnellen Auto erfasst werden. Wenn das Auto dagegen nur 50 km/h fährt ist das Risiko deutlich niedriger. Fast 80 Prozent der Fußgänger überleben dann”, heißt es in einem Statement von Probok.net. Schumski meint, solche Verbesserungen würden nicht viel Geld kosten. Alles, was es braucht, sind strukturelle Reformen und eine andere weniger von überholten Regeln geprägte Denkweise.

„Zum Beispiel müssen unsere Regeln das Leben und die Gesundheit eines Menschen über sein Eigentum stellen. Das ist oft der Kern der Probleme mit Versicherungen. Ich glaube, dass es möglich wäre, die Situation innerhalb der nächsten fünf bis sieben Jahre zu verbessern. Solange wir aber den alten Regeln folgen, bewegen wir uns in die falsche Richtung.“

Probok.net schlägt vor, die Straßen intuitiver zu gestalten. Überflüssige Verkehrsschilder sollen abgebaut werden, Fußgängerüberwege als Verkehrsinseln ausgebaut werden. Letztere Maßnahme würde Fußgänger schützen und – durch die damit verbundene Verschmälerung der Fahrspuren – die gefahrenen Geschwindigkeiten reduzieren. Zudem würden Autofahrer daran erinnert werden, dass Fußgänger die Straße kreuzen können.

Probok.net zufolge wäre es zudem hilfreich, mehr Kreisverkehre zu bauen. Diese zwingen Autofahrer dazu langsamer zu fahren und verringern das Risiko einer Kollision um 45 Prozent. Außerdem schlägt man ein schnelleres System zur Aufnahme von Unfällen vor. Der Prozess soll nur wenige Minuten dauern und die Fahrer sollen nicht mehr gezwungen sein, auf die Verkehrspolizei zu warten.   

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