Wie kann man leben, wenn einen ständig Träume ablenken und die Ärzte nicht helfen können? Elisabeth kennt diese Erscheinung nicht nur vom Hörensagen.
„Zum Teufel, wer lässt eine Kontrollarbeit am Anfang des Jahres schreiben?“, dachte Elisabeth, als sie in der sechsten Klasse einer Moskauer Schule lernte. Die bejahrte Lehrerin ging zwischen den Bankreihen durch und die Klassenkameraden der Schülerin schrieben fleißig etwas. Ihr Arbeitsblatt jedoch war leer, obwohl seit Beginn der Stunde bereits 20 Minuten vergangen waren – Algebra war halt nicht ihr Ding.
Plötzlich wurde die Tür zum Klassenzimmer von einem übergroßen Mann eingetreten. In der Klasse herrschte Chaos, entweder aus Entsetzen oder aus Begeisterung. Elisabeth versuchte sich zu erinnern, wo sie diesen Kerl bereits gesehen hatte. Beim Anblick des Bartes und der unnormal großen Schuhe erinnerte sie sich – es ist Hagrid, der Riese aus Harry Potter! Sie hatte immer gewusst, dass er eines Tages kommen werde, um sie nach Howards zu bringen, anders konnte es gar nicht sein.
„Lisa, träume nicht! Denke lieber nach!“ – die Lehrerin schlug mit der Faust auf den Tisch und holte die Schülerin in die Realität zurück.
Inzwischen ist Elisabeth 24 Jahre alt und arbeitet als Sekretärin in einer kleinen Firma. Aber sie träumt immer noch. Sie verbringt damit sechs bis acht Stunden pro Tag und deswegen eilt sie von der Arbeit gleich nach Hause. Aufgrund ihrer Fantasien war es ihr nicht möglich, einen geeigneten Beruf zu wählen und ihr Privatleben zu gestalten. Elisabeth glaubt, dass sie unter dem Maladaptiven Traumsyndrom leidet, einer bisher nicht anerkannten medizinischen Störung, die Menschen dazu bringt, zu fantasieren und das wirkliche Leben zu vergessen.
Elisabeth nennt ihre Fantasien lieber „Aufführungen“ – so bekommen sie für sie etwas mehr Sinn. Die ersten Aufführungen begannen im Alter von acht Jahren in ihrem Kopf zu erscheinen. Mit zwölf Jahren war diese Erscheinung bereits dauerhaft.
„Ich habe mir vorgestellt, wie die Spy Kids in die Klasse eindringen und mich mitnehmen“, erinnert sich die junge Frau.
Laut eigener Aussage war Elisabeth in der Schule eine sehr kommunikative Person und es gab keine Konflikte mit ihren Eltern. Gleichzeitig wollte sie immer ein wenig besser sein, als sie wirklich ist. Außerdem war sie unsterblich in einen Klassenkameraden verliebt – das war ein Anlass für neue Fantasien.
„Ich denke, seinetwegen hatte ich diese Aufführungen besonders oft in meinem Kopf. Als ich erkannte, dass er mich nicht mochte, gab ich mich mit den Illusionen zufrieden, in denen das Gegenteil geschah“, erklärt die junge Frau das Syndrom für sich selbst.
Musik half ihr dabei, ihre Auftritte zu „inszenieren“. Sobald sie ein romantisches Lied einschaltete, entstanden in ihrem Gehirn sofort neue Szenen, nicht nur mit imaginären Figuren, sondern auch mit ihrer Mutter oder ihrer besten Freundin.
Im Alter von 16 Jahren begann Elisabeth, ihre Dialoge laut aufzusagen und dabei durch das Zimmer zu gehen. Ihre Eltern, sagte sie, bemerkten das nicht.
„Ich kann die Straße hinuntergehen und in allen möglichen Situationen laut sprechen, wenn keine Leute da sind. Ich weiß, dass ich eigentlich mit mir selbst rede, aber es ist wichtig für mich, meine Gedanken laut auszusprechen“, sagt die junge Frau.
Elisabeth selbst gibt zu, dass diese „Aufführungen“ ihr viele Emotionen rauben, weshalb sie im wirklichen Leben keine Empathie verspüre. „Während der Aufführungen kann ich mitfühlen, wütend sein, weinen und lachen. Infolgedessen begannen die Leute, mich für völlig introvertiert zu halten. Ich erkannte, wie ich mich von der Welt entferne“, beschwert sich Elisabeth.
Elisabeth absolvierte eine Ausbildung als Bankenfachkraft in einer kostengünstigen Privathochschule, darauf bestanden die Eltern. Die Suche nach einem Job dauerte ein Jahr – fast die ganze Zeit verbrachte Elisabeth zu Hause mit Fantasien. Sie opferte zum Teil ihren Schlaf für sie und vergaß sogar zu essen.
„Manchmal fiel es mir schwer, überhaupt irgendwo hinzufahren. Schließlich ist meine persönliche Freizeit Gold wert. Zu Hause kann ich Zeit mit mir selbst und meinen Fantasien und Gedanken verbringen“, erinnert sie sich.
Elisabeth hat bei der Arbeit nie Freunde gefunden. Um nicht so viel zu fantasieren, arbeitet sie härter als jeder andere. Außerhalb des Büros kommuniziert sie mit ihren Eltern oder ihrer Jugendfreundin. Aber selbst diesen nahen Menschen erzählt das Mädchen nichts von ihren Aufführungen – sie hat Angst, dass für verrückt gehalten zu werden.
„Jetzt komme ich mit einem Minimum realer Kommunikation aus, denn jede Kommunikation, die ich mir ausdenke, ist interessanter, lustiger und so, wie ich sie will. Anstatt anderen Menschen etwas persönlich zu erzählen, gebe ich mich lieber meinen Aufführungen hin. Meine Bekannten sagen, ich sei geheimnisvoll – ich schweige fast immer und offenbare mich nicht“, sagt Elisabeth.
Jeden Abend setzt sie Kopfhörer auf und realisiert ihre Aufführungen, mal gestikulierend, mal flüsternd, mal lachend, mal weinend. In letzter Zeit hat sie sich oft vorgestellt, dass sie als erfolgreiche Frau ihre ehemaligen Klassenkameraden trifft und sich ihres schönen Lebens rühmt, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Nachdem sie genug Emotionen empfangen hat, geht Elisabeth schlafen.
Das Maladaptive Tagtraumsyndrom ist weder in der derzeit aktuellen 10. Fassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, noch in der Liste der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) enthalten. Dementsprechend gibt es keine Statistiken über die Zahl der Erkrankten in Russland.
Im populären russischen sozialen Netzwerk VKontakte gibt es jedoch mehrere Communitys, die sich diesem Syndrom widmen. Jede von ihnen hat mindestens 500 Mitglieder. Sie erzählen ihre Geschichte und schlagen Behandlungsmethoden vor. Einige haben sogar die Kabel ihrer Kopfhörer durchgeschnitten, um die Musik loszuwerden, die die Fantasien auslöst. Fast alle Mitglieder fordern, dass das Syndrom offiziell als Krankheit anerkannt wird. Und fast niemand wagt es, einen Arzt aufzusuchen – sie haben Angst, dass bei ihnen fälschlicherweise eine Zwangsstörung oder Schizophrenie diagnostiziert wird.
Der Psychologe Sergej Simakow betrachtet das Syndrom nicht als Krankheit. Ihm zufolge ist es nur „ständige Denkarbeit, eine intuitive Aktivität, bei der ein Mensch Möglichkeiten und Optionen durchläuft und die hilft, mit Misserfolgen umzugehen.“ „Um sicherzustellen, dass diese intuitive Aktivität nicht beim Leben stört, können Sie sich an einen Psychologen wenden“, schließt Simakow.
Elisabeth denkt darüber nach, einen Fachmann zu konsultieren und gibt zu, dass ihre Träume das Ergebnis von Faulheit oder Angst vor etwas Neuem sind.
Sie denkt, dass sie die Aufführungen nicht vollkommen loswerden könne, sie aber in der Lage sei, sie auf ein Minimum zu beschränken, wenn sie noch mehr Zeit mit der Arbeit verbringe oder eine Familie gründe. Letzteres ist für sie jedoch noch nicht vorstellbar – es ist viel einfacher, sich eine Beziehung mit einem Mann vorzustellen, als ihn im realen Leben zu finden.
Sie betrachtet das Syndrom nicht als eine schwere Krankheit, aber sie würde sich freuen, wenn Ärzte eine Heilung oder Behandlung dafür finden könnten.
„In der Zwischenzeit ist es wichtig, Fantasie und reale Welt voneinander zu trennen. Wenn diese Grenze zu verschwinden beginnt, lohnt es sich, einen Fachmann zu kontaktieren. Wahrscheinlich“, fasst Elisabeth zusammen.
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