Russland leidet unter einer Reihe von oft systembedingten Mängeln. Ökonomen würden sich auf die ungleiche Verteilung von Vermögen und die starke Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen konzentrieren. Politikwissenschaftler würden ein überzentralisiertes Regierungssystem, autokratische Tendenzen und einen Mangel an demokratischen Freiheiten hervorheben, die es in Teilen Westeuropas gibt. Touristen würden sich wahrscheinlich über den Mangel an englischsprachigen Menschen in den Regionen beschweren.
Leider ist all das wahr - Russland hat wie jedes andere Land eine Menge Probleme. Ich möchte jedoch den Fokus auf die unglückselige Kombination von Gleichgültigkeit und mangelndem Vertrauen legen. Die meisten von uns sind zynische und äußerst skeptische Menschen, die sich gegenseitig nicht leiden können, misstrauisch sind und sich, salopp ausgedrückt, einen Dreck umeinander scheren.
Unsere Verwandten und engen Freunde liegen uns sehr am Herzen. So ist Familie für die Mehrheit der Russen nach wie vor ein bedeutender Wert. 77 Prozent (rus) wollen unbedingt heiraten und eine Familie gründen.
„Familie, Kinder, Gesundheit, das ist die Glücksformel für unsere Bürger”, sagt (rus) Walerij Fjodorow vom russischen Meinungsforschungszentrum WZIOM. Das ist soweit ganz normal.
Doch leider hört Altruismus in Russland außerhalb des kleinen Kreises von Familienangehörigen und engen Freunden auf. Alles andere sind „Personen, die man nicht kennt”. Sie spielen keine Rolle, warum auch?
Ein Freund von mir erwähnte einmal in einem Gespräch mit ehemaligen Klassenkameraden, dass er monatlich rund 500 Rubel (umgerechnet etwa sieben Euro) einer Wohltätigkeitsorganisation spende. Die übliche Reaktion darauf war: „Hast Du keine eigene Familie, um deren Probleme Du Dich kümmern kannst?” Lass sich die Reichen mit so etwas beschäftigen.“
Die Russen sind keine Befürworter von Wohltätigkeit. Laut dem CAF World Giving Index von 2018 belegt (rus) Russland von 144 Plätzen den 110., basierend auf der Anzahl der Menschen, die Geld für wohltätige Zwecke spenden oder sich freiwillig engagieren. Die Menschen hier vertrauen Wohltätigkeitsorganisationen anscheinend nicht. Sie trauen fast keinem.
Das „Trust Barometer“ der internationalen Public Relations Agentur Edelman berichtete (eng) 2019, dass die Russen NGOs, Medien und Unternehmen grundsätzlich misstrauten und damit auf dem letzten Platz von 26 Nationen lägen.
Auch unserer Regierung trauen wir nicht. Nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums sind 52 Prozent (rus) der befragten Russen der Meinung, dass Regierungsvertreter über die Lage der Nation nicht die Wahrheit erzählen.
Grundsätzlich leben wir nach der berüchtigten Regel der Gulags: Vertraue keinem, zeige keine Angst, bitte niemanden um etwas. Natürlich ist das heutige Russland ein viel angenehmerer Ort als die UdSSR zu stalinistischen Zeiten - aber dennoch, wir neigen dazu, uns nur auf uns selbst zu verlassen. Wir betrachten jeden außerhalb unseres inneren Zirkels unserer Nächsten und Liebsten, also die Polizei, Regierung, die Gesellschaft, ja, jeden einzelnen Menschen auf der Straße, als potenziellen Agenten, uns bestenfalls gleichgültig, schlimmstenfalls feindselig gesonnen.
In dieser Atmosphäre von Angst und Misstrauen haben einige sogar Angst davor, bei Polizeikontrollen von den Polizisten Drogen untergeschoben zu bekommen, damit diese Geld erpressen können.
Was ist, wenn ein Fremder Sie auf der Straße anspricht? Das ist bestimmt ein Bettler oder sogar ein Räuber. Jemand sammelt Spenden? Das ist ganz sicher nur Betrug. So denken viele Russen, auch ich häufig.
Die Folgen können geradezu beschämend sein, zum Beispiel, wenn die Bewohner eines Hauses eine Stiftung unter Druck setzen, die krebskranken Kindern dabei hilft, einmal vor die Türe zu kommen. Weil die Bewohner im Erdgeschoss glaubten, Krebs sei ansteckend, wollten sie das verhindern. Das ist ethisch betrachtet eine Schande - und medizinisch gesehen lächerlich. Doch es ist im Moskau des Jahres 2019 passiert (rus).
Eine weitere Konsequenz unseres mangelnden Vertrauens ist die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Wir glauben gerne, dass Feinde außerhalb Russlands versuchen, uns kleinzumachen, uns zu verleumden und zu bestehlen. Sie sind bereit, alles zu tun, um den Russen das Leben noch schwerer zu machen.
„Es gibt eine starke Überzeugung in der russischen Gesellschaft, dass Russland einen Todfeind hat, der unterschiedliche Namen haben kann. Unterstützt wird er vom CIA oder vom Pentagon”, sagte (rus) im Mai 2018 der Soziologe Alexei Lewinson vom Lewada-Zentrum.
Wir vertrauen nicht einmal unseren Landsmännern, warum sollten wir also Ausländern trauen?
Der Mangel an Vertrauen ist eine der direkten Folgen sowohl der UdSSR als auch ihres Zusammenbruchs. Einerseits, nachdem Sie unter einem Regime gelebt haben, das im Grunde genommen jede geschäftliche und private Initiative im Keim erstickt und alles als „gemeinnützig“ deklariert hat, während die bürokratische Elite durchaus im Wohlstand gelebt hat (nicht jedoch der kleine Arbeiter!), reagieren Sie allergisch auf alles, was Worte wie „gemeinsame Bedürfnisse“ und „gemeinsame Ideale“ enthält.
Andererseits wurden in den 1990er Jahren alle sozialen Sicherungen, die das Sowjetsystem geboten hatte, über Bord geworfen. Tausende Menschen wurden reich, Hunderttausende haben alles verloren.
„Ich werde diesem Staat nie wieder vertrauen“, erklärte meine Großmutter, nachdem sie 1998 ihre gesamten Ersparnisse eingebüßt hatte. Die Menschen, die von den Veränderungen in diesen turbulenten Zeiten überrollt wurden, mahnten ihre Kinder, stets vorsichtig zu sein.
Auch die aktuellen Ereignisse tragen nicht dazu bei, gelassener zu werden. Das Vertrauen in die Regierung ist erneut gesunken, nachdem der Staat 2018 das Rentenalter angehoben hat.
Wir haben also Angst vor Fremden, misstrauen unserem Staat und der ganzen Welt, sind skeptisch gegenüber allem und leben in unseren winzigen belagerten Festungen innerhalb dieser großen belagerten Festung, die Russland heißt. Wird das immer so sein? Ich hoffe, nicht.
Doch da ich ein echter Russe bin, bin ich pessimistisch …
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