MEINUNG: Warum die Russen so besessen davon sind, überall Zäune aufzustellen

Andrey Nikerichev / Moskva Agency
Die seltsame Angewohnheit, Zäune zu bauen, ist eigentlich eine Sucht, und wir sind darin gefangen.

Die Liebe zu Zäunen, Kontrollpunkten und geschlossenen Türen in Russland kann nur mit der Liebe zum Kauen von Sonnenblumenkernen und dem Tragen eines Trainingsanzugs verglichen werden. Aber Zäune lieben wir eigentlichen sogar noch mehr. Alles wird mit Zäunen umstellt: Krankenhäuser, Schulen, Rasenflächen in Höfen, Geschäfte, Parks, alte Kirchen, neue Kirchen. Wir frieden jedes Privatgrundstück im Rahmen unseres eigenen Wohlstandes ein – aber immer und überall. 

Manchmal werden sogar mehrere Zäune unterschiedlicher Höhe nebeneinander aufgestellt, doch auch das ist in Ordnung. 

Schauen Sie sich es einfach selbst an.

Wir lieben das. 

Sogar nach dem Tod. 

Zäune sind oft unzuverlässig und schützen selten wirklich vor etwas. Warum brauchen wir sie dann?  

Ein Denkmal für den sowjetischen Traum

Diese ehrfurchtsvoll Haltung im Westen gegenüber dem Privateigentum gibt es in Russland nicht. Okay, wir verstehen, dass Zäune nicht unser unterentwickeltes Verhältnis zum Privateigentum kompensieren können, aber eines wissen wir ganz bestimmt: Wenn etwas nicht eingezäunt ist, wird es von anderen gestohlen. Diese Lektion haben wir durch Schweiß und Blut gelernt. So sieht es zumindest der Journalist Maxim Trudoljubow, Autor des Buches Menschen hinter Zäunen – Privatsphäre, Macht und Eigentum in Russlands. Zäune werden hier geliebt, denn „sie waren und sind Denkmäler des nicht verwirklichten Traums von Privatsphäre“.

In der UdSSR scheint das Primat des Kollektivs über das Private sowie die Erinnerung an diese Zeit über mehrere Generationen genetisch verankert worden zu sein. Die Gemeinschaftswohnungen, in denen sich Fremde ein Badezimmer, eine Toilette und eine Küche teilten, haben mehr als eine Generation von Sowjetbürgern erlebt. So wurde die Privatsphäre zu einem weiteren sowjetischen Traum. 

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Erst in den Neunzigerjahren, also im postsowjetischen Russland, tauchten in den Städten Zäune und Absperrungen um Privatgrundstücke auf. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatten dann bereits alle einen Zaun aufgestellt. Es ist nicht bekannt, wie viele Zäune es im Land gibt, aber man hat versucht, sie (zumindest teilweise) zu zählen. Nach Meinung eines Städtebauexperten würden sie ausreichen, die Erde am Äquator mehr als 50 Mal zu „umzäunen“. Und das sind nur die Zäune, die um die russischen Sommerhäuser herum stehen.

Und was ist mit Vertrauen? Der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Ausan hat eine neue Methode zur Messung des Sozialkapitals erfunden – und zwar in Zäunen. Es hat sich herausgestellt, dass es einen umgekehrten Zusammenhang zwischen Zäunen und dem Grad des Vertrauens zwischen den Menschen untereinander gibt: je geringer das Vertrauen, desto höher die Zäune.  

Ich war ein Kind, als ich meinem Vater dabei half, unser Grundstück mit einem Zaun zu umfrieden. Es war ein grauer, hässlicher, aber undurchlässiger Wellblechzaun, und wir waren die ersten auf unserer Straße, die einen Zaun hatten, um die Privatsphäre vor fremden Blicken schützte. Das war in den frühen Zweitausendern, während eben dieses Zaunbau-Booms. Die Sinn des Zaunes – so entnahm ich den Worten meiner Eltern – bestand darin, dass niemand sehen könne, was wir im Garten tun („die Nachbarn sind neidisch“). Was ging in unserem Garten vor sich? Nichts! Ich tollte mit meinem Hund herum und Mama trocknete ihre Wäsche. Dieser Zaun konnte niemanden wirklich abschrecken (ich selbst war in ein paar Sekunden darüber geklettert), aber er hat unsere Privatsphäre sorgfältig geschützt. 

Letztendlich wurden wir ausgeraubt. Wir waren nicht reich, aber die Nachbarn und vor allem die Räuber sahen das wohl anders – weil wir einen Zaun hatten, der alles Dahinterliegende verbarg. Denn wer nichts zu verbergen hat, benötigt keinen solchen Zaun. Meine Eltern dachten wohl, dass ein hoher Zaun ein Ausdruck von Erfolg sei, wie ein großes Auto oder eine Luxus-Handtasche. Aber es stellte sich heraus, dass es nur ein Stück Metall war, das uns von den anderen trennte, eben jenen „Neid“ weckte und meiner Mutter die Ohrringe kostete. Danach vergitterten  wir die Fenster.

Ein verborgenes Bedürfnis

Das Streben nach absoluten Schutz lässt  die Gesellschaft introvertiert, verschlossen und nervös werden, in ewiger Angst um ihre Sicherheit. Wir glauben immer noch, dass ein Zaun uns ruhiger schlafen lässt, aber das ist ein Irrglaube. Es führt nur zu noch höheren Zäunen, größeren Schranken und stärkeren Grenzen. Wer nach Russland kommt, dem fallen die viele Wachleute auf. Sie sind überall – in Schreibwarenläden, Restaurants, auf jedem Stockwerk eines Bürogebäudes (obwohl überall Kameras sind). Mit 1,5 Millionen Wachleuten, das sind 2 % der werktätigen Bevölkerung, nimmt Russland den ersten Platz bei dieser Kennziffer ein.

Und gleichzeitig ist eine Umzäunung auch ein Attribut unseres psychologischen Komforts. Befindet sich ein Russe auf einer freien Fläche, wird dies für ihn zu einem traumatischen Erlebnis. Sogar in der Redaktion von Russia Beyond, die eigentlich ein Großraumbüro ist, stehen Mini-Trennwände um jeden Tisch und in der Mitte der Redaktion.

Redaktion von Russia Beyond

Und wie viele Türen brauchen wir Ihrer Meinung nach, um uns in einem Mehrfamilien-Wohnhaus geschützt zu fühlen? „Um in seine Wohnung zu gelangen, muss eine Person durchschnittlich fünf verstärkte Türen passieren: drei im Eingangsbereich, die vierte in der Vorhalle auf seiner Etage und die fünfte ist die Wohnungstür selbst. Bei uns gibt es eigentlich nicht ein solch hohes Niveau von Gewalt in der Öffentlichkeit – wir leben nicht in Johannesburg oder in Kolumbien“, wundert sich Sergej Medwedjew, Professor für Politikwissenschaft an der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft. Aber wir haben uns davon überzeugt, dass eine gepanzerte Wohnungstür eine gute Investition ist.

Ich glaube nicht, dass die vielen Zäune unser Leben einfacher machen. Um ehrlich zu sein, verstehen wir sogar tief in unserem Inneren, dass es ohne sie vielleicht besser wäre, aber wir können diesem Bestreben nicht widerstehen, uns an ein System und eine Ordnung zu klammern, den Raum zu regulieren, ihn in Abschnitte zu unterteilen, an den Übergängen eine Wachmann zu postieren und zu kontrollieren und zu steuern. Dieses irrationale Gefühl ist ein Überbleibsel des totalitären Staates aus der Vergangenheit und der auf dessen Untergang folgenden Nachbeben. Und wie jedes Relikt wird es eines Tages verschwunden sein. 

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