Verliebt in einen Baum: Warum sind die Russen verrückt nach Birken?

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ALEXANDRA GUSEWA
Sie sind ein Nationalsymbol, Teil der Kultur und ein Zeichen für Patriotismus: die Birke ist ein Baum für alle Fälle.

Während einer langen Auslandsreise vermisst ein Russe oft seine „heimischen Birken“. Eine Birke umarmen und weinen … das braucht ein Russe, wenn er der Melancholie verfällt. Und warum? Es hängt mit den slawischen Wurzeln zusammen. 

Russischer Nationalbaum 

Da die Birke einer der am weitesten verbreiteten Bäume in Zentralrussland war, wurde sie zum Nationalbaum. Die alten Slawen lernten Nadelbäume erst kennen, als sie im 16. Jahrhundert nach Sibirien vordrangen. Ein Nadelbaum ist außerdem nicht leicht zu umarmen… Manchmal sind sogar moderne Russen überrascht, dass Birken nicht nur in Russland wachsen. Wie ist das möglich? Es sind unsere Birken! 

Im „Kalender der russischen Natur“ beschreibt Alexander Strischew Mythen und Volksglauben rund um die Birke. Die heidnischen Sklaven waren überzeugt, dass es Glück bringe, eine Birke zu umarmen. Es verleihe Kraft und Freude.  

Darüber hinaus galt die Birke als magisch. Birken wurden mit Menschen verglichen – ihr dünner Stamm wurde häufig mit einem schlanken Frauenkörper verglichen, die ausgebreiteten Äste mit den Zöpfen eines Mädchens. Die Birkenblüten werden auf Russisch Ohrringe genannt, weil sie an dieses Accessoire erinnern. 

Birken prägten das Leben des russischen Bauern bis zur Sowjetzeit 

Die alten Russen waren auch der Ansicht, dass die Birke heilende Eigenschaften hatte - sie tranken „Brühe“, die aus ihren Blättern und Blütenknospen gepresst wurde.

Sie fertigten Besen aus grünen Birkenzweigen und verwendeten sie in der Banja zum Verwirbeln der Luft und schlugen sich damit zu therapeutischen Zwecken auf den Rücken. Dieses Ritual ist bis heute beliebt. Gleichzeitig wurde Birkenteer zur Reinigung genutzt, bevor Seife nach Russland kam - und wird immer noch in Naturkosmetik verwendet. Viele Russen reagieren jedoch im Frühjahr allergisch auf Birkenpollen. 

Die Slawen verbrannten Birken in ihren Öfen zum Heizen, sie machten daraus Boote, Geschirr und Möbel. Birkenrinde wurde häufig verwendet - sie war weich genug zum Schnitzen und Flechten, sodass sie perfekt für Kunsthandwerk war. Souvenirs aus Birkenrinde sind in vielen alten russischen Städten immer noch sehr beliebt.

Birkenrinde ersetzte im 11. bis 15. Jahrhundert zudem das Papier. Und schließlich: russische Bauern stellten ihre Bastschuhe bis in die 1930er Jahre aus Birkenrinde her!

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Birkensaft schmeckt gut!  

Einen besonderen Platz in den Herzen der Russen hat Birkensaft. Es wird durch kleine Schnitte in die Birkenrinde extrahiert. Der Baum kann mehrere Wochen „bluten“. Birkensaft ist klar und schmeckt süßlich. Er kann gelagert werden und wird als Konservierungsmittel genutzt.

Birkensaft erlangte in der Sowjetunion eine neue Welle der Popularität, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, da er eine erschwingliche Zuckerquelle für die Menschen war, die lange Zeit Hunger gelitten hatten.

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„Weiße Birke“ ist eine beliebte Metapher in Kunst und Literatur  

„Eine weiße Birke“ wurde in der russischen Literatur viel gelobt. In der Folklore gab es zahlreiche Rätsel zur Birke: „Bei jedem Wetter trägt sie ein weißes Kleid“, „Es ist grün, aber keine Wiese, es ist weiß, aber kein Schnee, es ist lockig, aber kein Haar“,  „Eine russische Schönheit steht auf einer Lichtung, Vögel fliegen vorbei und lassen sich auf ihren Zöpfen nieder“ ... Es gibt auch ein beliebtes Volkslied, dessen Titel übersetzt lautet: „Kleine Birke, so einsam stand“ („Во поле березка стояла“). 

Und es gibt auch einen Mann, der die Birke in der russischen Literatur zur Heiligen erhoben hat. Sergei Jessenin, der oft als Bauerndichter bezeichnet wurde, ist im Land der Birken geboren: in Konstantinowo in der Region Rjasan. Als er sein Zuhause verließ, blieb der Gedanke an die heimischen Felder und die Birken. Er verfasste Dutzende Gedichte über Birken und die Natur. 

Sein berühmtestes Gedicht über die Birke schrieb er 1913. Jeder Russe kann es auswendig: 

Ganz in Weiß die Birke
ich vorm Fenster fand,
schneebedeckt im silbern
leuchtenden Gewand.

An der Zweige Spitzen,
weich gesäumt von Schnee,
zarte weiße Fransen,
Pinselchen ich seh.

Sonnenhelle Stille
schließt die Birke ein,
gibt der Flockenhülle
feuergoldnen Schein.

Bis die Dämmrung sachte
ihren Bogen schließt,
und die Zweige neu mit
Silber übergießt.

(Nachdichtung von Margit Bluhm) 

Zahlreiche Künstler malten Gemälde von Landschaften mit einsamen und traurigen Birken:

Oder sie malten schöne und üppige Haine, die im Sommer Schatten spenden. Birkenride bleibt immer kühl, auch wenn es draußen sehr heiß ist: 

Schließlich leisten Birken ihren Beitrag zum goldenen Herbst, den alle Dichter und anderen Künstler verehren.

Eine Birke ist zudem ein perfektes Symbol für den Lebensfluss. Frisch und grün im Frühling, dann verblassen ihre Blätter und werden zu Gold bevor sie fallen. Doch im Frühling erwacht sie zu neuem Leben.   

Ein sicheres Zeichen dafür, dass auch die modernen Russen die Birke lieben, ist ihr Hang, sich über sie lustig zu machen. „Geh eine Birke umarmen“, heißt es gerne spöttisch.

Der beliebte russische Schauspieler Sergei Besrukow ist der bekannteste zeitgenössische Birkenliebhaber und Birken-Umarmer.

Er hat Jessenin in zahlreichen Fernsehsendungen und bei Theateraufführungen porträtiert und hält regelmäßig Lesungen mit Jessenins Werken und singt Lieder, natürlich über die Birke: 

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