Sind Traditionen wichtiger als die Corona-Beschränkungen?

Ari Aster/А24; Pixabay
In Russland leben mehr als 180 ethnische Gruppen, von denen viele ihre eigenen Sitten und Gebräuche haben und tief verwurzelte Traditionen aus der Vergangenheit pflegen. Für einige ist die Wahrung dieser Traditionen wichtiger als die Einhaltung der Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Coronavirus.

Der Schamane trägt einen Pelzumhang und eine aufwändige Kopfbedeckung mit Rentierhörnern. In einer Hand hält er eine Trommel, die mit bunten Bändern und Fellstreifen verziert ist. In der anderen hält er einen Stab, an dessen Ende so etwas wie eine Fangvorrichtung befestigt ist. Der Schamane spricht kryptische Worte von Kräften, die Sorgen fernhalten sollen, und schlägt mit seinem Stab auf den Gong.

In einem mit Fellen und Stoffen ausgelegten Raum sitzen etwa 20 Personen eng beieinander und beobachten den Schamanen mit ernstem Gesichtsausdruck. Einige machen Aufnahmen mit dem Mobiltelefon. Eine Maske oder Handschuhe trägt hier niemand.  

Die Schamanen im Altai feiern wie jedes Jahr am 22. März das Frühlingsäquinoktium, die Tag-und-Nacht-Gleiche. Doch in diesem Jahr ist alles etwas anders. Die Einheimischen haben den Schamanen um Schutz vor Covid-19 für die Region gebeten (rus).

Auch in anderen russischen Regionen (rus), zum Beispiel in Burjatien und Tuwa, fanden laut Nachrichtenagentur „Tass“ solche schamanischen Rituale statt. 

„Jede Woche halten wir Zeremonien ab, um unsere Schutzpatrone und Gottheiten zu ehren. Damit das karmische Fundament unseres Körpers vor allen Arten von Widrigkeiten geschützt ist, einschließlich des Coronavirus “, erklärt (rus) der burjatische Schamane Bair Tsyrendorschijew. 

Hundertprozentig erfolgreich war das nicht. Bis zum 10. Mai gab es im Altai 669 Fälle von mit dem Coronavirus Infizierten, in Tuwa 81 und in Burjatien 570. 

Die Traditionen werden aufrechterhalten  

„In anderen Regionen finden Trauerfeierlichkeiten in Restaurants oder zu Hause statt. Bei uns stellen wir Zelte auf und decken Tische auf der Straße. Es ist unmöglich, alle Gäste zu Hause zu bewirten“, erzählt Georgi aus Wladikawkas, der Hauptstadt von Nordossetien. 

Laut Volkszählung von 2010 sind fast 65 Prozent der Bevölkerung der Nordkaukasus-Republik Osseten. Georgi erklärt, dass Beerdigungen und Hochzeiten Anlässe sind, die groß gefeiert werden. Jeder ist eingeladen, auch wenn er die Einladenden kaum kennt. 

„Vor ungefähr drei Wochen, als schon alle Restaurants und Friseure geschlossen waren, war ich bei einer Beerdigung. Auch entfernte Verwandte und die Dorfbewohner waren dort. Ich würde sagen, insgesamt 500 bis 600 Menschen. Nur fünf bis sechs trugen eine Maske. Das ist hier kein Thema, ein richtiger Mann trägt keine Maske“, berichtet Georgi. 

Nicht jeder fand Platz in dem kleinen privaten Innenhof, so dass Zelte und Tische mitten auf der Straße aufgestellt wurden. Die war während der Beerdigungsfeier gesperrt. „Aber jeder hat dafür Verständnis, denn es ist wichtig, den Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen und ihnen das Beste zu wünschen, damit sie so bald keine Sorgen mehr haben werden. Niemand beschwert sich“, so Georgi. 

Beerdigungen in der Nachbarrepublik Inguschetien verlaufen ähnlich. Kürzlich versammelten sich mehrere hundert Menschen zur Beerdigung des örtlichen Imams und seiner Söhne. 

Bis zum 10. Mai hatte Inguschetien mehr als 1.000 Infektionsfälle. In Wladikawkas waren es rund 1.500. 

Besuch bei den Dahingeschiedenen 

Ein Video eines Bewohners aus Nischni Nowgorod zeigt eine kleine, schwarzgekleidete Frau, die mit zitternden Händen einen Blumenstrauß hält und über ihre Schulter blickt. Schüchtern nähert sie sich einem hohen blauen Zaun. Sie beugt sich hinunter und gräbt ein kleines Loch unter dem Zaun, schiebt die Blumen hindurch und läuft weiter. 

Hinter dem Zaun befindet sich ein Friedhof, und an diesem Tag musste die Frau einfach dorthin gehen, ungeachtet der Pandemie. Es ist Raduniza, ein besonderer Tag im russisch-orthodoxen Kalender, der zwei Wochen nach Ostern begangen wird. An diesem Tag ist es üblich, das Grab verstorbener Verwandter zu besuchen, Blumen niederzulegen und zu beten.

In diesem Jahr fiel Raduniza auf den 28. April. An diesem Tag galten in ganz Russland Ausgangsbeschränkungen. Wegen der Coronavirus-Pandemie durften die Friedhöfe nur von den Angestellten und von Teilnehmern an Beerdigungen besucht werden. 

Doch viele Menschen haben versucht, das Verbot zu umgehen, indem sie zum Beispiel wie die Frau aus dem Video Blumen durch Löcher in Zäune gesteckt haben. Löcher gibt es viele in den Zäunen. In Chabarowsk (rus), St. Petersburg (rus) und Nischni Nowgorod und andernorts haben einige versucht, trotzdem die Friedhöfe zu betreten. Sie zeigten sich uneinsichtig und halten das Verbot, verstorbene Angehörige zu besuchen, für respektlos und unmoralisch.  

„Dies ist ein Tag der Erinnerung, eine jahrzehntelange Tradition. Man kann diese nicht einfach abschaffen. Zudem ist die Selbstisolation freiwillig. Niemand hat das Recht, Ihnen den Besuch von Verwandten zu verbieten. Das ist Hausarrest“, empört sich Tatjana Judina aus Tscheljabinsk, die an Raduniza auf den Friedhof gegangen ist. 

Wladimir, ein anderer Bewohner der Stadt, nennt das Verbot „unlogisch“. „An Gräbern ist es leicht, soziale Distanz zu wahren. Es stehen keine Menschenmengen um sie herum. Im öffentlichen Verkehr und in Geschäften ist die Infektionsgefahr weitaus höher. Sollen die Menschen deshalb zu Hause bleiben und sich vom Heiligen Geist ernähren?“, fragt er. 

Bis zum 10. Mai gab es in der Region Tscheljabinsk 1.041 Infektionsfälle. 

Frühlingsrituale gegen Digitalisierungszwang

Am 26. April hörten zwei Frauen in ihrem Haus in einem Waldgebiet in der Nähe von Nischni Nowgorod seltsame Geräusche und Schreie. Sie gingen nach draußen, um nachzuforschen. Tief im Wald stießen sie auf die folgende Szene: Ungefähr hundert Männer und Frauen ohne Maske tanzten herum und stießen unartikulierte Laute aus. Die Frauen machten eine Videoaufnahme, die es sogar ins nationale Fernsehen (rus) schaffte.  

Die beiden Organisatoren der Veranstaltung wurden angeklagt und müssen mit einer Geldstrafe zwischen 1.000 und 30.000 Rubel rechnen (umgerechnet etwa 12 bis 375 Euro). Einer der Teilnehmer, er nennt sich Oleg, was jedoch nicht sein richtiger Name ist, erklärte, man habe Krasnaja Gorka feiern wollen, ein heidnisches Frühlingsfest aus Zeiten der alten Rus.  

„Wir haben ein Ritual durchgeführt, um die Menschen in Nischni Nowgorod wieder mit ihren Vorfahren und den Naturgewalten zu vereinen und die getrübten Sinne der Menschen neu zu erwecken, um unsere Rus und die ganze Erde vor Entweihung und Versklavung durch Digitalisierung zu retten, erklärt er. Er betont, jeder hätte Schutzkleidung dabeigehabt. „Wir hatten auch Wasser dabei, um Feuer zu löschen. Die Stimmung war ausgezeichnet. Wir haben gesungen, getanzt, gespielt, sind über glühende Kohlen gelaufen, geschwommen und haben gut gegessen. Was will man mehr? Das Coronavirus wird von alleine wieder verschwinden“, glaubt Oleg. 

Bis zum 10. Mai waren 4.400 Menschen in der Region Nischni Nowgorod mit Covid-19 infiziert. 

>>> 7 Dinge, die sich im Leben der Russen seit COVID-19 verändert haben

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