Für eine nicht-russisch-sprachige Person klingt es oft so, als würden sich die Leute streiten. Gespräche können sehr temperamentvoll klingen, bis zu dem Punkt, wo ein Außenstehender denkt, dass es gleich zu einem Kampf kommt. Versuchen Sie sich vorzustellen, was die Hauptdarsteller in dem russischen Film „Über was Männer reden“ sagen. Klingt bedrohlich, oder?
In Wirklichkeit sehen Sie hier nur vier Freunde, die über das Rätsel des weiblichen Verhaltens reden – wie zum Beispiel, „warum sie nicht ans Telefon geht“ oder „warum sie ständig von meinem Teller im Restaurant isst“.
Der oft bedrohliche - sogar beängstigende - Ton ist eigentlich kein verräterisches Zeichen für irgendetwas. Hier ist ein Auszug aus einem anderen russischen Film: ein schwarzer Geländewagen, kräftige Männer in Anzügen, die in einer scheinbaren Atmosphäre des Unbehagens rauchen. Was denken Sie findet hier statt?
Tatsächlich diskutieren sie einfach nur über ein Physikproblem, das einer ihrer Söhne in der Schule hatte.
Warum klingt Russisch so grob?
Menschen westeuropäischer Sprachen bemerken oft eine Fülle an zischenden und pfeifenden Tönen, die für viele slawische Sprachen charakteristisch sind. Die primäre Theorie der Linguisten lautet, dass die Slawen versuchten, die Geräusche der Natur, die sie um sich hatten, nachzuahmen.
Trotzdem sehen nicht-russisch-sprachige Personen nicht so viel von dieser Rauheit im Polnischen, Tschechischen oder Serbischen, obwohl die Phonetik dieser Sprachen ebenso eine Vielzahl von Klangkombinationen enthält.
„Wenn Sprachen nicht kongenial sind und jede Bedeutung verdeckt ist, besteht die Tendenz darin, sich auf die Struktur zu konzentrieren“, sagt die Linguistin Tamara Grigoriewa von der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung. „Es scheint, dass Russisch immer noch die Sprache der Sowjetunion ist, so mächtig, dass sich auch heute noch Angst einschleicht.“ In einem Lied der russischen klassischen Rockband „Alisa“ heißt es: „Für die Außerirdischen klingt Russisch wie das Geräusch einer klingelnden Kettenrüstung.“
Aber was ist, wenn wir über die Liebe sprechen?
Der Kulturwissenschaftler Michael Kazinik glaubt, dass der Eindruck, den Russisch hinterlässt, je nach Themengebiet unterschiedlich ist. "Spricht man über das Auftanken eines Autos, besteht die Tendenz darin, Geräusche wie прр („prrr“) oder тррр („trrr“) wahrzunehmen. Spricht man dennoch über die Liebe dann kann der Fokus mehr auf ль („l“), ли („li“), ля-ля („la-la/lja-lja“) und Ähnlichem liegen. Hier ein Beispiel eines Radiosenders in Chicago.
„Unsere Sprache besitzt verschiedene Ebenen, die vielleicht in keiner anderen Sprache zu finden sind. Diese Facette kann sehr leicht in der Poesie nachvollzogen werden“, sagt Kazinik.
Wenn man es so betrachtet, wird Russisch tatsächlich anders – es wird melodischer, romantischer oder musikalischer. Und es spielt überhaupt keine Rolle mehr auf welche phonetischen Kombinationen Sie stoßen - es geht nur um die Emotionen, die Sie in die Wörter einbringen. Nehmen wir zum Beispiel den Dichter Alexander Blok und folgendes Gedicht, in dem fast jedes Wort einen Zischlaut щ („schtsch“), ч („tsch“) oder ж („sch“) enthält. Aber klingt das Gedicht wütend?
Sprache ist Emotion
Der Schriftsteller Michail Sadornow machte einmal scharfsinnig die Bemerkung, dass es bei Russisch darum geht, Emotionen zu vermitteln, während es in europäischen Sprachen darum geht, Handlungen zu vermitteln. Russen - obwohl sie kalt erscheinen - sind tatsächlich sehr emotional. Sie bringen diese Emotion in der Art wie sie sprechen zum Ausdruck: Ein Wort kann völlig verschiedene Bedeutungen haben und somit Emotionen erzeugen. Und es geht nicht nur darum, wie der Muttersprachler eine Emotion vermittelt, sondern wie der Empfänger sie interpretiert.
„Als Linguist glaube ich, dass Menschen, die mehrere Sprachen sprechen ebenfalls Unterschiede in ihrer Interpretation der russischen Sprache feststellen werden“, sagt Grigoriewa. Dieser Eindruck wird einem umso bewusster und verständlicher, je länger man sich mit der Sprache beschäftigt.
Nicolas Font aus Argentinien sagt: „Für mich hört sich Russisch sehr flüssig an mit vielen interessanten Klängen“, obwohl es ihm manchmal schwer fällt bestimmte Ausdrücke zu verstehen. Der Amerikaner John Varoli glaubt unterdessen, dass Russisch „einen harten Klang hat, aber auch sehr melodisch ist“. Andras Karpati aus Ungarn glaubt auch, dass Russisch „eine Herausforderung zum Lernen“ ist, aber je mehr er es praktiziert, desto mehr offenbart es „einen ausgeglichenen und schönen Klang“.