„Gestern hatten wir eine Elternversammlung über Zoom. Ich hatte das Gefühl, ich würde einen Film im Fernseher anschauen – eine Mischung aus einer absurden Komödie Woody Allens und einem Katastrophenfilm. Beim Abspann stellt man fest, dass man nichts verstanden hat“,schreibt der Journalist Roman aus Moskau bei Facebook und bekam für seinen Post 8.200 Likes von anderen Eltern, die wie er an einer Online-Elternversammlung teilgenommen hatten, um sich über die neuen Regeln zu informieren.
Vor einem Monat wussten die Eltern in Russland noch nicht, ob ihre Kinder überhaupt zur Schule gehen werden. Vor dem Hintergrund der Gespräche über die zweite Welle der Coronavirus-Pandemie standen die Pläne des Bildungsministeriums noch auf der Kippe. Es wurde versucht, aus dem kleinsten Signal eine Vorhersage zu treffen: „Ein unheilvolles Zeichen – der Schulleiter hat sich erkundigt, ob einer der Schüler noch ein Tablet benötige“, schrieb eine besorgte Mutter.
Aber am 27. Juli bestätigte die Behörde: Am 1. September werden die Kinder zur Schule gehen, Fernunterricht werde nicht in Betracht gezogen, auch unter der Gefahr einer Coronavirus-Infektion. Dafür werde für die Schulen ein neues Regelwerk ausgearbeitet.
Entsprechend diesen Regeln kommen die Klassen nun zu zeitversetzt zur Schule und beginnen den Unterricht zu unterschiedlichen Zeiten, die Pausen überschneiden sich nicht. Jeder Klassen wird ein Klassenraum zugewiesen, in dem der gesamte Unterricht stattfindet (außer Chemie und Sportunterricht). Nur die Lehrer dürfen von Klasse zu Klasse wechseln. Dadurch wird vermieden, dass die Kinder in Kontakt mit anderen Schülern außerhalb ihrer Klasse kommen.
Einige Eltern schreiben, dass es in ihren Schulen, um ein Gedränge der Kinder zu verhindern, sogar einen Zeitplan für die Fortbewegung im Treppenhaus gebe – die verschiedenen Klassen dürfen nicht gleichzeitig auf der Schultreppe gehen. Der Zugang zum Gebäude erfolgt, wenn möglich, ebenfalls durch unterschiedliche Türen.
Für diejenigen, die Kinder in verschiedenen Schulen haben, werden die Anti-COVID-Maßnahmen zu einem schwierigen Unterfangen: „Ein Thema, das mich seit einer Woche beschäftigt. Meine Söhne Leonid und Jakow gehen auf verschiedene Schulen. Beide Schulen haben eine 15-minütiges Zeitfenster zum Betreten der Schule. Wer früher oder später kommt, wird nicht hereingelassen. Zwischen den Zeitfenstern der beiden Kinder liegen 15 Minuten. Die eine Schule befindet sich an der U-Bahn-Station Mendelejewskaja, die andere an der U-Bahn-Station Sportiwnaja [die sich in verschiedenen Stadtbezirken Moskaus befinden]. Die Frage ist: Wozu das Ganze?“,schrieb der Medienmanager Ilja Krassiltschik im sozialen Netzwerk.
Dafür wird es an russischen Schulen keine strenge Regeln zum Tragen von Masken geben. Die Kinder können sich ohne Maske in der Schule bewegen; die Lehrer sind verpflichtet, sie in Korridoren und der Schulspeisung zu tragen, auf Wunsch aber auch in Klassenzimmern. Auch der russische Präsident Wladimir Putin sprach darüber: „Es ist nicht leicht für die Lehrer. Das müssen wir verstehen. Wäre es für uns, wenn wir zusammensitzen, einfach, eine Maske zu tragen und zu sprechen? Nach zehn Minuten würden wir es wahrscheinlich nicht mehr aushalten.“
Alle anderen Vorkehrungen in den Schulen wurden verschärft: Temperaturmessung am Eingang, obligatorische Reinigung mit Desinfektionsmitteln in den Pausen, Anwesenheit von Sanitärpersonal auf allen Stockwerken, zusätzliche Reinigung des Geschirrs in der Schulspeisung und der Toiletten usw.
Lehrer und anderes Schulpersonal wurden alle auf Covid-19 getestet. Für die Kinder war das nicht obligatorisch und wenn sie irgendwelche Symptome haben, müssen die Eltern sie selbst testen lassen. Von einer Impfung ist zurzeit nicht die Rede. Nach Möglichkeit wird der erste registrierte russische Impfstoff Sputnik V zuerst an die älteren Lehrer verteilt.Laut Gesundheitsminister Michail Muraschko werden Kinder in diesem Jahr ganz sicher nicht geimpft werden (warum es nicht möglich ist, sie zu impfen, haben wir hier erklärt).
„Wir sind seit fünf Monate in der Selbstisolation (mein Ehemann gehört zur Risikogruppe). Wir haben Angst davor, unser Kind am 1. September zur Schule zu schicken. Ich wäge verschiedene Varianten ab, angefangen damit, mit dem Schulleiter zu vereinbaren, das Kind wenigstens das erste Quartal zu Hause zu lassen, bis hin zum – unwiderruflichen – Wechsel an eine Online-Schule“, heißt es in einem Internet-Forum für Mütter. Ja, die Foren für Eltern „platzen aus allen Nähten“. Die Schulen wissen nicht, wie sie all diesen Empfehlungen nachkommen sollen, aber die Anhänger eines vollständigen Online-Unterrichts befinden sich in diesen Foren in der überwältigenden Minderheit.
Ein Föderationsbeamter aus dem Bildungsministerium bestätigt im Gespräch mit The Bell, die Behörden hätten verstanden, dass niemand ernsthaft vorhabe, die Kinder diesem Herbst nicht zur Schule gehen zu lassen. Zumal sich die Umstellung der russischen Schulen auf die Online-Bildung zu Beginn der Pandemie in diesem Frühjahr als völliger Fehlschlag herausgestellt hat – das russische Bildungssystem war darauf nicht vorbereitet.
In Russland existieren keine einheitlichen Ressourcen für den Fernunterricht, so dass das Bildungsministerium damals lediglich eine Liste mit empfohlenen Online-Diensten erstellte und den Schulen anbot, dass diese die Organisation des Lehrbetriebs in ihre eigenen Hände nehmen. Infolgedessen waren die Inhalte auf diesen Plattformen das reine Chaos und der so genannte „Fernunterricht“ in der russischen Version war meist weiter nichts als die kollektive Imitation eines Schulklassenzimmers mithilfe von Zoom. Es gab keine Möglichkeit den Online-Unterricht als Aufzeichnung anzusehen oder selbstständig zu lernen – die Offline-Lehrmethoden waren für das Online-Lernen völlig ungeeignet.
Die ständigen Ausfälle der Onlineangebote sowie der banale Mangel an technischen Mitteln und Internetanbindung in den Haushalten der Familien haben die Situation nicht erleichtert.Laut Angaben des Statistischen Amts Rosstat für 2018 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) verfügten nur 72,4 % der russischen Familien über einen Personalcomputer. In einigen abgelegenen Dörfern ohne Internetzugang erhielten die Schulkinder ihre Aufgaben mit Übergang zum Fernunterricht über die normale Briefpost. Daher empfahl die Behörde sogar, dass die am schwersten von COVID-19 bedrohten Regionen das Schuljahr für die Klassenstufen 1 – 8 vorzeitig abschließen.
Was in diesem Schuljahr im Falle einer zweiten COVID-Welle geschehen wird, ist noch nicht klar – die Beamten sprechen davon, verschiedene Optionen zu entwickeln (einschließlich des Fernunterrichts, den jetzt alle zu vermeiden versuchen). Bisher sieht das Verfahren wie folgt aus: Wurde ein Schüler positiv auf COVID-19 getestet, wird die ganze Klasse in eine zweiwöchige Quarantäne geschickt.
In den Schulen heißt es, die ersten zwei Wochen seien die wichtigsten. Im Weiteren werden sich die Beamten die epidemiologische Situation ansehen und entscheiden. Und jenen Eltern, die sich entschieden haben, ihr Kind nicht zur Schule gehen zu lassen, wird angeboten, diese Frage persönlich mit den Lehrern „nach eigenem Ermessen“ zu klären.
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