Zwei junge Männer mit langen Schnurrbärten sitzen mit Hemd bekleidet an einem Holztisch in einem typisch russischen Haus. Vor ihnen steht ein Samowar, in der Hand halten sie Knabbergebäck und trinken Tee aus kleinen Tassen mit traditionellem Muster. Die Kommentarzeilen strömen derweil über vor Beiträgen wie „Was für eine Atmosphäre!“ oder „Was ist hier los?“
So sieht ein Standard-Livestream von Piterville aus – einer Truppe russischer Blogger, die auf TikTok, Instagram und Twitter Videos über das vorrevolutionäre Russland drehen. Einige ihrer Clips auf TikTok haben über eine Million Aufrufe erzielt und seit Februar 2021 haben sie dank einem Video, das seinen Weg auf das Unterhaltungsportal 9gag fand, auch das Interesse des ausländischen Publikums gewonnen.
Peteville sorgt aber nicht nur für unterhaltsame Inhalte, sondern versucht auch, die russische Geschichte und Literatur unter den hartgesottensten Schulversagern zu popularisieren.
Erste Clips und Aufnahmen in der Kälte
Das Piterville-Team besteht aus vier Personen – den Moskauer Theaterschauspielern Kirill Stscherbin, Dmitrij Repin und Nikolai Karpow sowie ihrer Produzentin Anastasia Martynenko. Die Vlogger haben, außer Anastasia, gemeinsam an der Russischen Staatlichen Fachhochschule für Bühnenkunst in St. Petersburg studiert. Laut Nikolai haben sie schon in ihrer Studienzeit „gerne dumme Streiche gespielt“.
„Nach dem Studium sind wir – der eine früher, der andere später – nach Moskau gezogen, und haben alle an unterschiedlichen Theatern gearbeitet. Mit den Rollen, die wir zu spielen hatten, waren wir mal mehr, mal weniger zufrieden. Aber unsere Kreativität war damit nicht ausgeschöpft und so beschlossen wir, etwas anderes für uns zu suchen“, erinnert sich Nikolai Karpow.
Der Auslöser für die Entstehung von Piterville war ein Gratulationsvideo für ihren gemeinsamen Freund mit dem Spitznamen Graf. Die Schauspieler beschlossen, mit diesem Spitznamen herumzuspielen und das Ständchen im Rap-Stil zu drehen, aber in einer vorrevolutionären Version der russischen Sprache. Dieser Clip erschien 2016 und bis 2020 drehte das Team mehrere weitere Videos in einem ähnlichen Stil. Im Herbst 2020 schlug ihre gemeinsame Freundin, die Produzentin Anastasia, vor, tägliche Kurzvideos für TikTok zu produzieren.
Die ersten Clips enthielten Witze über Puschkin und Gogol sowie Tänze in russischen Nationaltrachten.
„Als ich erfuhr, dass Puschkin nicht nur ein toller Poet war“
„Mood – Tanz auf den Feldern“
„Wenn die Pestpatrouille das Tragen einer Maske verlangt.“
„Wir haben Kostüme genommen, die uns gefielen, und darauf basierend haben wir uns etwas einfallen lassen. Wir hatten zum Beispiel ein Hemd, das uns gefiel, und wir begannen, uns einen Charakter dafür auszudenken und zu überlegen, an welchem Ort es gut aussehen würde. Wenn man etwas Schönes im russischen Stil sieht, fängt die Fantasie sofort an, sich zu regen und es kommen einem gleich lauter tolle Ideen“, erklärt Kirill Stscherbin das Prinzip der Clip-Produktion.
Die ersten Videos wurden zu Hause und in Studios gedreht, aber dann stellten sie fest, dass die russische Natur und historische Gebäude im Bild fehlten. Deshalb begannen die Mitglieder von Piterville im Drei-Wochen-Rhythmus kleine Reisen in verschiedene russische Städte zu organisieren.
„Wir suchen uns coole Provinzstädte aus, in denen noch echte russische Atmosphäre herrscht, und solche, in denen es nicht so viele Menschen gibt. Zuerst fuhren wir nach Susdal, dann nach Ostaschkow und St. Petersburg. Wir kommen an, drehen eine Menge Material und veröffentlichen es und währenddessen planen wir bereits unsere nächste Reise“, sagt Nikolai Karpow.
Viele der Aufnahmen erfolgten im Spätherbst und Winter, wobei bei den meisten Clips die Darsteller im Hemd, Uniform oder leichten Mänteln gefilmt wurden.
„Oft drehen die Jungs dünngekleidet in der Kälte, während ich mit Mütze, Schal und einer warmen Daunenjacke vor ihnen stehe. Hundekälte ist unsere Lieblingsvariante“, plaudert Produzentin Anastasia Martynenko Details zu den Dreharbeiten aus.
Persönliches Fandom und Geschichtsunterricht auf TikTok
Die beliebtesten Videos sind die, in denen in historischen Kostümen zu moderner Musik getanzt wird. „Nach meiner Erfahrung entsteht der Funke an der Nahtstelle von Historizität und moderner Wahrnehmung. Zum Beispiel der Tanz zu dem Lied über Rasputin, diesem modernen Retro-Song – wir hatten in St. Petersburg die perfekte Location und so kam alles zusammen“, erinnert sich Dmitrij Repin über eines der beliebtesten Videos von Piterville.
In den Clips und den Kommentaren zu den Videos verwenden die Schauspieler zudem eine vorrevolutionäre Sprache – so schreiben sie den Buchstaben „ъ“ am Ende von Wörtern und ersetzen moderne Begriffe durch ihre veralteten Analoga: Statt лайк (Like) scheiben sie любо(angenehm), statt забыл (vergessen) verwenden sie das alte Wort запамятовалъ und so weiter.
Piterville hat eine ganze Reihe von Videos produziert, die auf dem Roman Schuld und Sühne von Fjodor Dostojewski basieren. Laut den Gruppenmitgliedern hat sich der jüngere Teil des Publikums nach den Videos mehr für den Schriftsteller interessiert, und sei es nur, um das Wesen der Meme über Rodion Raskolnikow, die Hauptfigur des Romans, zu verstehen.
Links Raskolnikow, rechts SonjaMarmeladowa
„Für mich persönlich gab es ein riesiges Lob, als wir das Video bereits gedreht hatten und eines der Kids auf TikTok schrieb ,Heute hat unser Geschichtslehrer eine Unterrichtsstunde auf euren historischen TikToksaufgebaut. Ich habe einfach vor Glück gebrüllt‘“, erinnert sich Dmitrij Repin.
Zusätzlich zu den Clips nehmen die Schauspieler an Live-Übertragungen in sozialen Netzwerken teil und dies nicht nur aus Bauernhäusern oder historischen Wohnungen: Eine Live-Übertragungen wurde aus dem von Joseph-Brodsky-Museum gestreamt, eine andere aus dem Fjodor-Dostojewski-Museum in St. Petersburg.
„Mehrmals haben wir Gedichte rezitiert, in der Nacht vor Weihnachten aus einem zufälligen Buch vorgelesen und auch gelegentlich schon aus den Werken unserer Fans vorgetragen. Und wir wurden zu Live-Übertragungen in Museen eingeladen. Wir ermöglichen es Menschen aus anderen Städten, Orte zu besuchen, an denen sie noch nie waren“, erzählt Karpow über die Fernsehübertragungen.
Bis jetzt arbeitet Piterville nochmit Verlust. Die Truppe erhält gelegentlich Spenden und schaltet nur selten Werbung, z. B. für historische Restaurants, Seife oder Kräuterlikör. Laut ihrer Produzentin Anastasia wird die Gruppe im Februar 2021 dank der Werbung endlich die Gewinnzone erreichen können.
Die Piterville-Fans haben bereits einen eigenen Chatroom bei Telegram, wo sie sich über die Clips austauschen und über russische Geschichte, Literatur und Musik diskutieren.
„Wir müssen verstehen, dass sich bereits Menschen um uns scharen, die eine gewisse Affinität zu Geschichte und Literatur haben. Aber was wir wirklich sehen, ist ein Wandel hin zur autodidaktischen Bildung. Wir versuchen zu verdeutlichen, dass Lesen ein Genuss ist, dass es völlig normal ist und Spaß bereitet, etwas Neues zu lernen. Es ist keine Schande, etwas zu wissen, sondern, etwas nicht zu wissen“, fasst Nikolai Karpow zusammen.