„Asyl“ für Alkoholiker: Was wurde aus den Ausnüchterungseinrichtungen in der UdSSR?

Moskau, Russland, 1. August 1993. Die Inhaftierten werden in eine Ausrnüchterungseinrichtung gebracht .

Moskau, Russland, 1. August 1993. Die Inhaftierten werden in eine Ausrnüchterungseinrichtung gebracht .

Alexander Schogin /TASS
Ein kaltes Bad, ein Handtuch mit Ammoniak für das Gesicht und die Androhung, seine Arbeitsstelle zu verlieren – das waren bei Weitem nicht alle Methoden der Behandlung in sowjetischen Ausnüchterungseinrichtungen. Wir sagen Ihnen, was aus ihnen geworden ist.

Eine Ärztin für Suchtmedizin, eine untersetzte Frau im fortgeschrittenen Alter mit Kurzhaarschnitt, sitzt in einem Veranstaltungsraum an einem langen Tisch. Vor ihr steht ein Mikrofon, in das sie mit monotoner Stimme über die Gefahren des Alkoholismus spricht; ein paar Meter weiter, in Sesseln, sitzen Dutzende Männer, ungekämmt, mit faltigen, schlaffen Gesichtern, noch nicht ganz ausgenüchtert.

Die UdSSR, Moldauische SSR, Kischinjow, 31. Dezember 1987: Jewgenia Fomowna Telipan, Sanitäterin des medizinischen Entgiftungszentrums in Kischinau, am Arbeitsplatz.

„Ich fange mit einem Anwesenden an, der wiederholt rückfällig geworden ist. Nikolai Iwanowitsch Gulepow... Stehen Sie bitte auf. Das ist das achte Mal, dass Sie in der Ausnüchterungszelle waren. Das achte Mal! ... Wir werden ein sehr ernstes Gespräch mit Ihnen führen! ... Sie wurden von einem Suchtmediziner behandelt, aber Sie trinken weiter!“, wird ein dünner, blonder Mann im Mantel und karierten Schal abgekanzelt.

Dieser entschuldigt sich wie ein Kind – er sei behandelt worden und habe acht Monate keinen Schluck getrunken. Dann aber habe er die Behandlung abgebrochen und wieder angefangen zu trinken. Der Arzt drohte ihm mit einer Zwangseinweisung, wenn er sich nicht zusammenreiße, doch dann stellte sich ein anderer Patient auf die Seite des „Kranken“.

„Sind Sie sicher, dass Sie mit dieser Behandlung wirklich helfen? Ich wurde gerade behandelt, und ich muss Ihnen sagen, dass sich das auf die Genitalien und die Leber ausgewirkt hat!“, empört sich der Mann.

„Das kommt vom Wodka“, rechtfertigte sich der Arzt.

So verlief in der Regel ein Präventionsgespräch in sowjetischen Ausnüchterungszellen, die es früher in fast jeder Stadt der UdSSR gab und die erst 2011 abgeschafft wurden. Wie funktionierten sie, wie wurden die sowjetischen Trunkenbolde in ihnen wieder zur Vernunft gebracht und wodurch wurden sie ersetzt?

Moldauische SSR, Kischinjow, 31. Dezember 1987: Dienstinspektor,
Oberleutnant der Miliz, Giorgi Bottsa (rechts), während eines Gesprächs mit Leonid Bojanschiu im medizinischen Entgiftungszentrum von Kischinau.

Die ersten „Asyle“ für Betrunkene

Ausnüchterungseinrichtungen entstanden bereits im Russischen Reich Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine der ersten wurde in Tula unter dem Namen „Asyl für Betrunkene“ eröffnet.

Die Polizei oder ein angeheuerter Kutscher brachten jeden, der aufgrund von Alkoholkonsum kaum noch stehen konnte oder gar in der eisigen Kälte einschlief, in ein kleines Backsteingebäude, in dem sich mehrere Krankenbetten befanden, schreibt die Zeitschrift Dilettant.

Im „Asyl“ wurden die Neuankömmlinge beköstigt. Man ließ sie ausgeschlafen und schickte sie am nächsten Morgen nach Hause. Betrunkene bekamen Marinade zu trinken, manchmal erhielten sie Riechsalz, seltener wurden „Strychnin- und Arsenspritzen“ verabreicht, und die einzige Unterhaltung war ein Grammophon. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen fanden sich in solchen Unterkünften wieder. Manchmal landeten Betrunkene mit Kindern in der Ausnüchterungsstelle – in diesem Fall hatte das „Asyl“ eine Kinderabteilung, in der das Kind auf die „Genesung“ des Elternteils warten konnte.

„Im ersten Jahr der Tätigkeit der Anstalt sank die Straßensterblichkeit ,durch Opium’ in Tula auf 58 %. Im Jahr 1909 wurden 3.029 Personen in der Anstalt und 87 in der Ambulanz behandelt, der ,Prozentsatz der erfolgreichen Heilung’ erreichte 60,72 %“, berichtet TASS.

Bis 1910 entstanden überall im Land ähnliche Einrichtungen, die aber alle nur bis zur Revolution von 1917 in Betrieb waren.

Kalte Bäder auf Quittung

Aus der Serie „Ausnüchterungseinrichtung in Tscherepowets“.

Ab 1931 wurden im ganzen Land wieder Ausnüchterungszellen eröffnet; die Trunkenbolde wurden ebenso von der Polizei (die nun Miliz hieß) aufgegriffen, aber nun wurde mit den Alkoholikern nicht mehr so zimperlich umgegangen:

„Es ist schwierig, den Kranken mitzunehmen, er ist störrisch, flucht, schlägt um sich. Die diensthabenden Milizionäre und der Sanitäter sind erfahren und zähmen ihn schnell: Sie werfen ihn auf den Boden und legen ihm ein mit Ammoniak getränktes Handtuch in die Mütze, sodass es ihm ins Gesicht hängt. Er schreit wie am Spieß, aber er ist bereits fast ruhiggestellt. Man übergibt ihn an zwei große Frauen, die ihn entkleiden. Sie werfen ihn auf die Liege und ziehen ihn in einer Minute völlig aus. Die Kleidung wird ihm von hinten über den Kopf ausgezogen, wobei ein paar Knöpfe zur Seite rollen. Dann wird er in eine Wanne mit kaltem Wasser geschleppt, wo er mit Seife und Schwamm gewaschen und anschließend abgetrocknet und nunmehr fügsam in den Schlafsaal geführt wird. Ein nackter Mann ist immer gefügiger als ein bekleideter, was man von Frauen nicht sagen kann“, schrieb Alexander Dreitzer, Arzt im Volkskommissariat für Gesundheitswesen, in seinem Buch Notizen eines Rettungsarztes.

Aus der Serie „Ausnüchterungseinrichtung in Tscherepowets“.

Danach wurde der „Kranke“ von einem Arzt auf Verletzungen untersucht und zum Schlafen auf eine Liege geschickt. Alle Habseligkeiten und sein Geld wurden mitgenommen und in einen speziellen Beutel gesteckt, am Morgen wurden sie ihm zurückgegeben. Der Aufenthalt in der Ausnüchterungszelle war nicht kostenlos: Einem Betrunkenen wurden 25 bis 40 Rubel in Rechnung gestellt (bei einem Durchschnittslohn von 200 bis 300 Rubel im Jahre 1940), je nach dem Grad seiner Rauflust“, schrieb Dreitzer. Für den eingezogenen Betrag erhielt er eine Quittung für „medizinische Versorgung“.

Die Probleme des Betrunkenen endeten damit jedoch nicht – die Strafverfolgungsbehörden meldeten den Betrunkenen an seinem Arbeitsplatz, wofür ihm die Prämie entzogen oder er entlassen werden konnte. Studenten, die in einer Ausnüchterungszelle gelandet waren, konnten exmatrikuliert werden. Viele der Sünder wollten so schwerwiegende Konsequenzen vermeiden und versuchten daher, die Milizionäre zu bestechen, damit diese keine Anzeige erstatteten.

Wenn ein Bürger in einem Jahr dreimal in einer Ausnüchterungszelle gelandet war, wurde er zur Untersuchung und Behandlung seines Alkoholismus in eine Entziehungsanstalt geschickt; er war auch verpflichtet, an Gesprächen teilzunehmen, die von den Mitarbeitern der Ausnüchterungseinrichtung und Suchtberatern geführt wurden – dafür gab es in den Anstalten spezielle Abteilungen zur Vorbeugung der Trunksucht.

Schwangere, Minderjährige, Behinderte, Soldaten und Polizisten sowie Helden der Sowjetunion und Helden der sozialistischen Arbeit wurden nicht in eine Ausnüchterungszelle, sondern zu ihrem Dienstort, ins Krankenhaus oder nach Hause gebracht.

All diese Maßnahmen halfen jedoch nicht – Michail Gorbatschows Assistent für internationale Angelegenheiten, Anatoli Tschernjajew, schreibt in seinen Memoiren, der Alkoholkonsum sei seit 1950 auf das Fünffache gestiegen und zwei Drittel der Straftaten wurden in betrunkenem Zustand begangen. Tschernjajew wies auf die Zunahme der Alkoholproduktion als Hauptgrund hin.

Nach dem 30. Mai 1985 wurden auf Erlass des Innenministeriums der UdSSR alle Betrunkenen, deren Auftreten „gegen die Menschenwürde und die öffentliche Moral“ verstieß, in Ausnüchterungzellen gebracht: Sie wurden meist auf Straßen, Plätzen, Parks, Bahnhöfen, Flughäfen und an anderen öffentlichen Orten aufgegriffen. Minderjährige wurden nur in Ausnahmefällen mitgenommen – wenn ihre Identität und ihr Wohnsitz nicht geklärt werden konnten. Ausländische Diplomaten durften nicht aufgegriffen werden, und wenn eine solche Personen gefunden wurde, hatte sich „das ranghöchste Mitglied der Miliztruppe beim diensthabenden Offizier der städtischen Innenbehörde zu melden und nach dessen Anweisungen zu handeln“.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann die Zahl der Ausnüchterungszellen allmählich zu sinken und 2010 hob Präsident Dmitrij Medwedew den Erlass von 1985 auf, woraufhin 2011 alle dieser Einrichtungen abgeschafft wurden.

Das Schicksal heutiger Alkoholiker und die Ausnüchterungszelle 2.0

Nachdem die Ausnüchterungseinrichtungen geschlossen wurden, werden Menschen mit schwerer Alkoholvergiftung oder alkoholischem Koma nun in reguläre Krankenhäuser gebracht. Auf Wunsch können die Angehörigen eines Volltrunkenen Ärzte aus einer Privatklinik herbeirufen, die ihn mithilfe von Medikamenten und Infusionen von seinem Rausch befreien – eine solche Dienstleistung kostet umgerechnet mindestens 17 Euro (wobei es nach oben keine Preisgrenze gibt, denn eine einheitliche Preisliste existiert nicht).

Patient der medizinischen Entgiftungseinrichtung der Chimki-Abteilung
für innere Angelegenheiten, Moskau.

Kurier Maxim (Name geändert) bestellte im September 2020 eine private Ausnüchterung für seine Freundin Jelena – nach seinen Angaben besuchten sie in jener Nacht ein paar Bars. In einer von ihnen lernten sie einen Mann kennen, Jelena jagte Maxim zum Teufel und fuhr mit dem Fremden zu diesem nach Hause.  

„Sie war für 24 Stunden verschwunden, am nächsten Abend brachte eine unbekannte junge Frau sie zu mir und sagte, dass sie nicht nur zu viel getrunken, sondern auch Drogen genommen hatte. Ihre Lippen waren ganz blau, sie reagierte auf nichts – nun, ich rief die ,Ausnüchterer’ ins Haus. Zwei Ärzte kamen, erstellten ein EKG und schlossen sie an einen Tropf an. Sie wollten, dass ich Jelena zur Behandlung in ihre Privatklinik schicke und verlangten 140.000 Rubel (1.530 Euro). Ich hatte nicht so viel Geld und sie berechneten mir nur 15.000 Rubel (164 Euro) für den den Hausbesuch“, erinnert sich Maxim.

Patient der medizinischen Entgiftungseinrichtung der Chimki-Abteilung
für innere Angelegenheiten, Moskau.

Nach Maxims Worten wachte Jelena ein paar Stunden später auf, erinnerte sich an nichts mehr und ging zur Arbeit, als ob nichts passiert wäre.

In einigen Städten Russlands, wie z. B. Tscheljabinsk, St. Petersburg und Nischni Nowgorod, haben die lokalen Behörden auf eigene Initiative Ausnüchterungszellen wiedereröffnet, für die Gelder aus dem regionalen Haushalt bereitgestellt wurden. Nur Menschen mit mäßiger Intoxikation werden dorthin gebracht – sie werden von Ärzten untersucht, und wenn keine dringende medizinische Hilfe benötigt wird, lässt man sie in einem der Betten wieder zu sich kommen.  

Am 1. Januar 2021 trat das Gesetz über die Wiederinbetriebnahme von Ausnüchterungseinrichtungen in Kraft. Die Polizeibeamten bringen nun wieder alle Bürger, die an öffentlichen Orten im Zustand einer Alkohol-, Drogen- oder Giftintoxikation angetroffen werden und sich nicht bewegen können oder den Orientierungssinn verloren haben, in die Ausnüchterungseinrichtungen. Auch Betrunkene werden aus ihren Häusern und Wohnungen dorthin verbracht, aber nur, wenn die Menschen, die mit dem Betrunkenen zusammenleben, eine Anzeige gegen diesen erstatten und wenn die Polizei entscheidet, dass der durch Alkohol oder Drogen Berauschte das Leben und die Gesundheit anderer gefährden oder Sachschäden verursachen könnte.

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