Um fünf Uhr morgens liegt ein junger Mann nach seiner Schicht in einem der Clubs in Orenburg zu Hause auf dem Bett und schaut an die Decke, in seinen Ohren klingen die Zeilen des russischen Rappers MiyaGi:
„Der Kietz ist verwahrlost – c'est la vie
Wir sind erschöpft, also hilf mir.
Chefs und Aasgeier ohne Liebe
Laternen fliegen über der Stadt.“
Bilal ist schon seit zwölf Jahren als Kellner tätig. Er arbeitet sechs Tage in der Woche und „setzt“ in jeder Schicht für ein paar Stunden ein Lächeln auf.
„Mir wurde immer gesagt: 'Wenn du lächelst, werden die Leute dich mögen und du bekommst mehr Trinkgeldʻ. Das hat sich bei mir festgesetzt und deshalb lächle ich automatisch. Die Leute lächeln [im Gegenzug] in 50 % der Fälle“, sagt Bilal. „Der einzige Nachteil ist, dass danach die Stimmung total im Eimer ist. Meinen Kollegen geht es jeden Abend genauso. Wahrscheinlich geben wir ihnen [den Besuchern] Energie ab.“
Er spielt nach jeder Schicht den Track von MiyaGi und träumt davon, sein eigenes Restaurant mit dieser Musik zu eröffnen, ein Buch über das Restaurantgeschäft zu schreiben und mit dem Servieren von Cocktails kein Geld mehr zu verdienen ...und auch nicht mit seinem Lächeln.
Gastronomisches Festival „Halte die Krabbe“ in Wladiwostok Russland. Wladiwostok, 3. Juli 2016.
Juri Smitjuk/TASSLaut dem jährlichen internationalen Smiling Reportder Mystery Shopping Professionals' Association (MSPA) lächeltendie Mitarbeiter russischer Geschäfte, Cafés und Restaurants im Jahr 2019 ganze 18 % mehr als 2010. Am häufigsten lächelten die russischen Verkäufer im Jahr 2017 und landeten damit zum ersten Mal auf Platz zwei des Rankings. Laut Karina Pipia, einer Soziologin am Levada Center, sei dies auf den allgemeinen Aufschwung der öffentlichen Stimmung in jenem Jahr zurückzuführen – Umfragen aus dieser Zeit zeigten eine allgemeine Zufriedenheit mit dem Leben, der Regierung und dem Einkommen.
Das Pandemiejahr 2020 scheint diesen positiven Trend jedoch kompensiert zu haben – nach Gesprächen mit Flugbegleitern, Kellnern und Verkäufern zu urteilen, lächeln Russen wieder seltener.
Daria wurde im April 2021 Flugbegleiterin bei einer der größten russischen Fluggesellschaften (sie bat darum, den Namen der Fluggesellschaft nicht zu nennen). Davor hatte sie die entsprechendeAusbildung absolviert.
„In den Klassen wurde uns gesagt: ,Ihr zieht die Uniform an, setzt ein Lächeln auf undlasst alle Probleme auf dem Boden lzurückʻ. Die Psychologen lehrten uns, positiv zu denken, sie rieten zur Meditation – aber wenn ein Passagier gegen die Verhaltensregeln an Bord verstößt, sich nicht anschnallt oder seine Maske abnimmt, ist keine Zeit für ein Lächeln – dann führen wir ein sehr ernstes Gespräch mit ihm“, erklärt Daria.
Flugbegleiter gehen auf dem nach Alexander Puschkin in Moskau benannten internationalen Flughafen Scheremetjewo die Treppe eines Airbus A350-900-Langstrecken-Großraum-Passagierflugzeugs hinunter.
Ramil Sitdikow/SputnikIhrer Meinung nach ist die Reaktion der Russen auf das Lächeln der Flugbegleiter „neutral“, d.h. das Lächeln wir selten erwidert. Europäer und Russen, die ins Ausland fliegen, lächelten am meisten, Russen auf Inlandsflügen deutlich weniger. Daria ist allerdings noch nicht in asiatische Länder geflogen.
Anna, eine Flugbegleiterin mit mehr als drei Jahren Berufserfahrung, stimmt ihr zu. Ihrer Erinnerung nach haben die Russen während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 am meisten gelächelt, aber mit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie sei die Zahl der Lächelnden auf den Flügen dramatisch gesunken. Ebenso wie die Zahl der Flüge selbst.
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie die Leute gelächelt und sich gefreut haben, als wir während der Weltmeisterschaft den Spielstand direkt in den Flugzeugen bekannt gaben. Alles war einfacher, die Menschen waren herzlicher. Aber jetzt ist es anders: Nun kann sogar eine unhöfliche Person auf dein Lächeln mit einer Beleidigung reagieren. Selbst wenn die Menschen lächeln, können wir das hinter ihren Masken nicht sehen, und für Flugbegleiter wird es immer schwieriger, zu lächeln, denn das Virus hat in der gesamten Luftfahrt seine Spuren hinterlassen – Arbeitsplätze wurden gestrichen und Menschen haben ihren Job verloren. Die Leute sind jetzt wütender, alle haben es satt“, beschreibt Anna die Situation.
Laut Natalia, einer Flugbegleiterin mit zweijähriger Berufserfahrung, hat die Notwendigkeit, während der Pandemie Masken zu tragen, die Zahl der Lacher drastisch reduziert.
„Aber wir haben gelernt, mit den Augen zu lächeln, was die Passagiere übrigens spüren und ein positives Feedback geben“, sagt Natalia.
Im Oktober 2020 wollte Pobeda, eine der führenden russischen Fluggesellschaften, sogar 3.500 Silikon-Gesichtsverkleinerer, sogenannte Smile Trainer, kaufen. Die Fluggesellschaft wollte sie für die Ausbildung des zukünftigen Kabinenpersonals in ihrer Schule verwenden. Noch im selben Monat stornierte das Unternehmen den Kaufjedoch mit der Begründung, dass Pobeda zunächst eine Mindestcharge testen wolle.
„Unsere Flugbegleiter beherrschen erfolgreich die Kunst des makellosen Lächelns: Jeden Tag erhalten wir Rückmeldungen von Kunden, die die Stimmung an Bord dankbar zur Kenntnis nehmen“, so der Pressedienst der Fluggesellschaft gegenüber Russia Beyond.
Laut Natalia, einer Kellnerin mit neun Jahren Berufserfahrung, lächeln die Gäste in Cafés und Restaurants in den Regionen nur sehr selten.
„In Wolgograd haben die Leute kaum gelächelt, aber als ich nach Moskau zog, war ich erstaunt über die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit der Moskauer Gäste. Es hat keinen Sinn, die Leute aus den Regionen anzulächeln, denke ich“, räumt die junge Frau ein.
In den Geschäften und Salons in den Regionen ist die Situation mit dem Lächeln identisch, so Roman Gotowko, Verkaufsassistent im Weinatelier Abrau-Durso in Irkutsk.
Verkauf von rotem Kaviar.
Witali Ankow/Sputnik„Ich denke, das Lächeln und die Ausstrahlung der Gäste hängen nach wie vor von der emotionalen ,Belastungʻ durch persönliche Probleme und Sorgen ab. Es ist möglich, dem Kunden im Gegenzug ein Lächeln zu entlocken, wenn Sie aufrichtig lächeln und es nicht vortäuschen. Aber in gewöhnlichen Situationen, so scheint es mir, haben die Russen im Allgemeinen begonnen, seltener zu lächeln“, erklärt Roman.
Nach Meinung von Xenia Semenkina, Verkaufsassistentin im Kommunikationssalon Swjasnoj, hat die Häufigkeit des Lächelns von Kunden in den letzten fünf Jahren stark abgenommen. Aber der Grund dafür liege nicht in persönlichen Problemen, sondern in der Tatsache, dass sich die Menschen an das Lächeln von Verkäufern gewöhnt haben.
„Es sind viele Konkurrenten aufgetaucht, die die Kunden genauso gut bedienen, so dass sie angefangen haben, es als selbstverständlich anzusehen. Warum dann [dem Verkäufer] zurücklächeln?“, argumentiert Ksenia.
Der Möbelverkäufer Leonid Sobtschenko stimmt ebenfalls zu, dass die Zahl der lächelnden Russen abgenommen hat, führt dies aber auf die Zunahme der Zahl armer Menschen im Lande zurück.
„Ich erinnere mich, dass die Menschen 2012 viel häufiger lächelten, wenn sie sich neue Möbel kauften. Jetzt ist es viel schwieriger für sie, sich von ihrem Geld zu trennen und es gibt kein Lächeln mehr“, sagte Sobtschenko.
Lächeln ist nichts für Russen
Fast die Hälfte der Russen empfindet eher negative Emotionen wie Grausamkeit, Angst, Groll und Neid, meint die Soziologin Karina Pipia vom Levada Center.
„Im Allgemeinen ist Lächeln in der russischen Mentalität nicht gleichbedeutend mit Glück oder irgendwelchen positiven Trends. Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass die negativen Emotionen, die Russen erleben, freiwillig in ein Lächeln umgewandelt werden. Eine andere Sache ist, dass sich vielleicht die Standards/Algorithmen der Arbeit im Dienstleistungssektor ändern (Lächeln und Grüßen als Voraussetzung für einen Mitarbeiter), was wiederum die positive Dynamik beeinflusst“, erklärt Pipia.
Menschen auf einer Straße im Zentrum von Moskau.
Aleksei Kudenko/SputnikLaut der Psychologin Olga Golyzina versucht der Dienstleistungssektor in Russland zwar, die Menschen an Lächeln und positives Denken zu gewöhnen, aber die Methode, immer zu lächeln und Positives in jedem Tag zu finden, funktionierenicht.
„Ein ständiges Lächeln ist dem Menschen nicht angeboren. Der Mensch reagiert emotional auf viele Dinge, die um ihn herum passieren, und all diese Emotionen spiegeln sich im Gesicht wider. Man kann häusliche, finanzielle und familiäre Probleme nicht ständig unter einem Lächeln verstecken, das wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Eine andere Frage ist, ob eine Person zu einem Psychologen geht und dieses Problem verarbeitet – diese Kultur, Probleme mit einem Psychologen durchzuarbeiten, ist in den USA und Europa sehr entwickelt“, argumentiert Golyzina.
Ihrer Meinung nach liegt der Grund nicht zu lächeln, nicht etwas darin, dass ein russischer Mensch unhöflich und böse ist, sondern weil er nicht mit seinen Emotionen umgehen kann – das erzeuge den Eindruck von „nationaler Mürrischkeit“, sagt Golyzina.
„Um lächeln zu können, muss man zuerst lernen, mit sich selbst und seinem inneren Selbst zu kommunizieren – dann werden auch Russen öfter lächeln“, glaubt diePsychologin.
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