Eine Tafel erinnert an ein ganzes Leben: Gedenken an die Opfer stalinistischer Repressionen

Eine Frau legt eine Blume neben Gedenktafeln an die Opfer der sowjetischen Repression, 10. Dezember 2014.

Eine Frau legt eine Blume neben Gedenktafeln an die Opfer der sowjetischen Repression, 10. Dezember 2014.

Juri Kadobnow/ AFP
Auf einer Edelstahlplatte sind ein Name, ein Vorname, ein Geburtsdatum, der Tag der Verhaftung und der Todestag verewigt. Und daneben befindet sich ein Quadrat, welches von der Form einem Foto ähnelt, nur ohne Bild. Leere ist das, was in den 30er Jahren von einem Menschen übriggeblieben ist, als plötzlich ganze Familien ausgelöscht wurden. Von vielen ist nichts bekannt, da sie einfach verschwunden sind. Nicht einmal die Gräber können aufgefunden werden.

Das Projekt „Die letzte Adresse“ (zu RussischPosledni adres“) ist eine breite öffentliche Initiative, die darauf abzielt, das Andenken an Menschen zu bewahren, die in den Jahren der Sowjetmacht Opfer politischer Repressionen und staatlicher Tyrannei wurden.

Jede der handtellergroßen Gedenktafeln, die an den tausenden „letzten Adressen“ der Opfer angebracht sind, ist jeweils einer Person gewidmet. Das Projekt basiert auf einer öffentlich zugänglichen Datenbank. Deren Nutzer können jede für sie interessante Adresse oder jeden für sie interessanten Namen nachrecherchieren.

Von deutschen „Stolpersteinen“ inspiriert

Mit der Anbringung von Gedenktafeln an Häusern in Städten und Dörfern der postsowjetischen Staaten würdigt die Bürgerinitiative „Die letzte Adresse“ in Russland das Gedenken an die Opfer der sowjetischen staatlichen Repressionen. Die Initiatoren haben die kollektive Erinnerungsform „Stolpersteine“, die an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors in Europa erinnert, aufgegriffen und in leicht abgewandelter Form umgesetzt. Dabei wurden mehr als 75.000 Gedenktafeln zum Gedenken an die Opfer des Holocaust angebracht. Obwohl sich beide Initiativen in ihren Grundprinzipien ähneln, sind sie in Deutschland und Russland mit völlig unterschiedlichen Erinnerungen und historischen Zusammenhängen verbunden. Gleichzeitig ergänzen sich die Erinnerungsformen in beiden Ländern, denn seit 2013 gibt es die ersten Stolpersteine ​​für Opfer der NS-Besatzung im russischen Orjol. Auch in Deutschland wurde 2020 das dritte Gedenkzeichen „Die letzte Adresse“ für Opfer der stalinistischen Repression installiert. 

In Russland werden Platten im Gegensatz zum deutschen Projekt nicht auf Gehwegen, sondern an Fassaden von Häusern befestigt, deren Anschriften zu ihren Lebzeiten die letzten Adressen der Unterdrückten wurden. Das zugrunde liegende Prinzip lautet „Ein Name, ein Leben, ein Zeichen“.

Schilder der Erinnerung

Die vom berühmten russischen Architekten Alexander Brodsky entwickelte Tafel „Die letzte Adresse“ ist eine 11 x 19 Zentimeter große Edelstahlplatte mit mehreren Zeilen und nüchternen Informationen über Opfer politischer Repression.

Jeder kann eine Installation veranlassen, dazu muss man kein Verwandter oder Nachkomme sein: Die Organisatoren glauben, dass es kein „Familienmonopol“ auf das Andenken der Opfer gibt - dies ist das gemeinsame Gedächtnis der Bewohner des ganzen Landes. Wenn das ursprüngliche Haus nicht erhalten ist, kann ein Gedenkschild am Haus, das an der Stelle des abgerissenen Hauses errichtet wurde, oder an jedem angrenzenden Gebäude, angebracht werden. Die wichtigste Informationsquelle für die Suche und Überprüfung von Informationen ist die Datenbank der Geschichts- und Bildungsgesellschaft „Memorial“.

In diesem Video können Sie den Prozess der Installation einer Gedenktafel, sowie die Geschichte der Person verfolgen, der sie gewidmet ist.

Persönliches Schicksal 

Ein 19-jähriger Student der Fakultät für Geschichte der Moskauer Staatlichen Universität wurde am 10. Dezember 1937 nach einer nur 20-minütigen Gerichtsverhandlung erschossen. Eine Zeugenvernehmung oder Plädoyers der Verteidiger gab es nicht. Sein Studienfreund Nikolai wurde ebenfalls verhört: Seine Aussage bildete die Grundlage der Anklage. „Wir wissen nicht, was wirklich da passiert ist und wie er diese Aussage gemacht hat“, sagt Tatiana Samgina. „Wir wissen, dass sie Freunde waren.“ Drei Monate später wurde Nikolai erschossen. „Das menschliche Leben ist einzigartig. Es sollte keine Auslöschung von Fakten aus dem Leben geben“, ist sich Tatiana sicher. 

Sergei Prudowski erinnert sich an die Geschichten seines Großvaters über seinen 15-jährigen Aufenthalt in den Lagern. Er hatte das Glück, lebend zurückzukehren. Seine Kollegen von der Harbin Eisenbahn hatten weniger Glück, und Sergei widmete ihnen drei Gedenktafeln. „Ich kenne diese Leute zwar nicht, dennoch haben sie mit meinem Großvater zusammengearbeitet.“ 

Auch viele Geistliche litten unter den massiven stalinistischen Repressionen. Einer der unschuldig Verurteilten war Pater Michail Sсhik. Er wurde im Februar 1937 auf dem Höhepunkt des Großen Terrors verhaftet. Erst Ende desselben Jahres erhielt seine Frau Natalia Schachowskaja die Nachricht vom Schicksal ihres Mannes: eine Bescheinigung, dass er „ohne Korrespondenzrecht in ein entferntes Lager geschickt wurde“. Doch weder sie noch ihre Töchter erfuhren, dass Pater Michail zusammen mit anderen Häftlingen am 27. September 1937 in der Nähe von Moskau erschossen worden war. 84 Jahre später, am selben Tag, wurde ein Schild mit der letzten Adresse in Erinnerung an ihn angebracht.

„Heute habe ich am Gebet zum Gedenken an Pater Miсhail Sсhik teilgenommen. In der Stadt Malojaroslawez, an dem Haus, in dem er mit seiner Familie lebte und von dem aus er seinen letzten Kreuzweg antrat, wurde das Schild der letzten Adresse angebracht,“schrieb Natalia Saweljewa,diedabei war.Es waren viele Gäste und Verwandte da... es ist sehr wichtig für unser Volk, sich an die tragischen Seiten der Geschichte zu erinnern, damit sie sich nie wiederholen. Ein würdiger Tag: Trauer und Kommunikation verbanden sich. 

Projekt, das ganz Europa vereint

Ein dem russischen Projekt verliehener Preis trägt den Namen Karl Wilhelm Fricke, eines deutschen Publizisten und Herausgebers klassischer Werke über Widerstand und staatliche Repression in der DDR. Er selbst wurde ein Opfer: 1955 entführten Stasi-Beamte Fricke und brachten ihn von West-Berlin nach Ost. Dort wurde der Publizist wegen „Aufhetzung zu Krieg und Boykott“ vor Gericht gestellt und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Später wurde die Strafe auf vier Jahre verkürzt.

Stifter des Preises ist die Bundesstiftung zur Erforschung der SED-Diktatur. Hauptsponsor ist der Arzt und Menschenrechtsaktivist Burkhard Weigel, der in den Jahren der Berliner Mauer hunderten Menschen geholfen hat, die DDR zu verlassen, um in die BRD zu flüchten

Platten werden auch in Österreich, Italien, Polen, den Niederlanden, Tschechien, der Ukraine und vielen anderen Ländern installiert.

Für diejenigen, die in Moskau leben, gibt es eine spezielle Website, auf der Sie sehen können, ob es in Ihrer Straße Opfer gibt, die auch dort gelebt haben. Die Seite enthält eine Liste, in der beinah alle Straßen Moskaus und die Daten der Personen erfasst sind: Sie beinhalten den vollständigen Namen, Geburtsdatum und -ort, Beruf und Position, Datum der Erschießung und Begräbnisort.

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