Sprechen Russen sich wirklich mit tawaristsch (Genosse) an?

Kira Lisitskaya (Photo: Tretyakov Gallery; Mikhail Prekhner/MAMM/MDF)
Ja, einige von ihnen tun das immer noch – man sollte sich nur nicht darauf einlassen, dieses seltsame Wort in Russland zu benutzen.

„Tawáristsch, glaube daran, er wird aufgehen, der Stern des mitreißenden Glücks.“ Diese Zeilen aus dem Gedicht An Tschaadajew von Alexander Puschkin sind wahrscheinlich das erste Mal, dass das Wort товарищ (tawáristsch, dt.: Genosse, eigentlich Kamerad) in der russischen Dichtung verwendet wurde, und zwar in der Bedeutung Freund. Im frühen 19. Jahrhundert, als diese Zeilen geschrieben wurden, hatte das Wort tawáristsch eine andere Bedeutung.

Seit 1802 war tawáristsch in Russland eine Bezeichnung für eine Regierungsposition, die einen Stellvertreter bezeichnete. tawáristschministra bedeutete so viel wie stellvertretender Minister. In der russischen Sprache vor dem 19. Jahrhundert wurde tawáristsch auch zur Bezeichnung eines Geschäftspartners verwendet, der die gleichen Waren wie man selbst verkauft, da tawáristsch vom Wort товар (tawár, dt.: Ware) abgeleitet ist. Es entsprach dem in Deutschland gebräuchlichen Compagnon.

Zu seiner Bedeutung als Freund (nicht als Geschäftspartner) kam das Wort durch eine Anpassung des französischen camarade, das in den revolutionären Kreisen in Frankreich seit den 1790er Jahren weit verbreitet war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde tawáristsch auf Russisch zu einer gängigen Anrede für die Sozialisten – aber darauf gehen wir in einem gesonderten Artikel näher ein.

Der Befehlshaber der Baltischen Flotte, Vizeadmiral Aleksandr Nossatow (rechts) im Militärhafen von Baltijsk.

Der „revolutionäre“ Beigeschmack des Wortes tawáristsch im Russischen kommt auch dadurch zustande, dass Puschkin es in seinem Gedicht verwendete. Wir wissen, dass Puschkin mit den Dezemberisten sympathisierte, die sich gegen die Herrschaft der Romanows auflehnten. Außerdem war Pjotr Tschaadajew, an den das oben erwähnte Gedicht gerichtet war, ebenfalls ein scharfer Kritiker des herrschenden Regimes. Tawáristsch war also eng mit dem Hauch der Revolution verbunden.

In der Sowjetzeit wurde tawáristsch zusammen mit гражданин (graschdanín, dt.: Bürger) unter den Einwohnern der UdSSR die übliche Form der höflichen Anrede für eine unbekannte Person. Nach dem Zerfall des Landes wurde diese Anrede mit der Sowjetzeit in Verbindung gebracht und vor allem von den jüngeren Generationen nicht mehr aktiv verwendet.

In der russischen Umgangssprache wird tawáristsch heute eher ironisch verwendet. In den  Streitkräften Russlands wird der Begriff jedoch immer noch offiziell verwendet, da es dort eine obligatorische förmliche Anrede ist. Vorgesetzte und Ältere, die sich in dienstlichen Angelegenheiten an Untergebene und Jüngere wenden, sprechen sie mit ihrem militärischen Rang und ihrem Nachnamen („Unterleutnant Smirnow“) oder nur mit dem militärischen Rang an, wobei tawáristsch vor dem militärischen Rang verwendet wird, z.B. товарищ младший лейтенант (tawáristsch mládstschij letenánt, dt.: Genosse Unterleutnant). Umgekehrt ist nur die zweite Variante zulässig, das Untergebene ihren Vorgesetzten nicht mit dessen Nachnamen ansprechen dürfen. Viele Russen, die in der Armee dienen, verwenden also offiziell immer noch täglich die Anrede tawáristsch.

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